Autismus Diagnostik - Testverfahren - ADI-R

Autismus-Diagnostik: Testverfahren ADI-R

Informationen zum Testverfahren ADI-R

Der zweite wichtige Baustein in der Autismus-Diagnostik ist das ADI-R, das „Diagnostische Interview für Autismus“. Dieser Fragebogen ähnelt auf den ersten Blick vom Umfang her einem dickeren Prospekt. Die Durchführung erfolgt mit den Eltern oder einem Elternteil der eventuell von Autismus betroffenen Person, die, in dem Fall Sie, im Alter von 4–5 Jahren intensiv erlebt und beobachtet haben. Sie selbst sind dabei nicht anwesend. In meiner Diagnostik ist die Durchführung dieses Tests online oder persönlich in der Praxis möglich.

Vom Aufbau her ist das ADI-R ein Testverfahren mit sehr spezifischen Fragen, die prüfen, ob Sie ein gewisses Verhalten im Alter von 4–5 Jahren gezeigt haben oder nicht. Es ist kein offenes Interview. Sie müssen hierbei nicht alle Verhaltensweisen Autismus-typisch präsentiert haben. Das Spektrum ist riesig und vielfältig. Man kann dezente oder auch offensichtlichere Beeinträchtigungen gezeigt haben. Es wird zum Beispiel gefragt, ob Sie im Alter von 4-5 Jahren zur Verabschiedung von anderen gewunken haben, ob Sie Blickkontakt gehalten haben (grade Mädchen und Frauen haben dies sehr früh gelernt, das Halten von Blickkontakt wäre kein Ausschlusskriterium!), oder wie Ihr Verhalten in Gruppensituationen mit anderen Kindern war. Insgesamt sind es knapp 90 Fragen, die beantwortet werden müssen, wobei ich im Bereich Erwachsener nur die Fragen erhebe, die für die Bewertung relevant sind, was ca. der Hälfte entspricht. Da ich mit Erwachsenen eine sehr ausführliche Anamnese erhebe, ist es nicht notwendig, die Fragen zu stellen, die bei der Abschlussbewertung keine Rolle spielen. Bei Kindern ist eine ausführliche Selbstanamnese nicht möglich, daher ist es dort sinnvoll, den Eltern auch die Fragen zu stellen, die nicht in die Bewertung mit einfließen.

Es ist völlig normal, dass nicht mehr alle Fragen von Ihren Eltern beantwortet werden können, da es zu lange her ist, dass Sie klein waren. Meiner Erfahrung nach treten Probleme auch erst oft nach dem Schuleintritt auf, bzw. werden als solche wahrgenommen, wenn die Anforderungen an das Kind steigen, sodass im relevanten Alter von 4 -5 Jahren noch keine Beeinträchtigungen wahrgenommen wurden. Denn Leistungsdruck und hohe Anforderungen sind im Kindergartenalter ja meistens noch nicht gegeben.

Und eine Abschlussbemerkung- ich finde es nicht fair, dass erwachsene Menschen mit dem Verdacht auf Autismus „gezwungen“ werden, in der Diagnostik das ADI-R unbedingt durchführen zu müssen. Ich habe öfter Patient:innen, die (fast) das Rentenalter erreicht haben und wo ein Einbezug der Eltern nicht mehr möglich ist. Auch besteht im Erwachsenenalter oft kein Kontakt mehr zu den Eltern. Ich finde es äußerst unfair, bei diesen Betroffenen keine Autismus-Diagnostik durchzuführen. Zumal es alternative Testverfahren gibt und eine Autismus-Thematik bei sensibler Anamnese auch ohne Einbezug der Eltern (leicht) offenbar wird. Stehen die Eltern jedoch zur Verfügung und stellen sich nicht gegen eine Autismus-Diagnose bei Ihrem Kind, sind sie sehr wertvolle Informant:innen!

Und so sinnvoll und hilfreich ich das ADI-R finde, so habe ich dennoch eine Kritik daran. Grade weiblich sozialisierte Menschen erlernen sehr früh hochgradige Anpassungsstrategien (Masking/Camouflaging). Und wie der ADOS  ist auch das ADI-R überwiegend beobachtungs-fokussiert und erfasst interne Prozesse und Anpassungsleistungen des Kindes kaum. Dies hat zur Folge, dass selbst Eltern oft nur geringe Kenntnis über mögliche Schwierigkeiten ihres Kindes hatten, oder diese nur unzureichend bemerkten und später angeben, dass ihr Kind „völlig normal“ war. Dies kann zur Folge haben, dass das ADI-R im Ergebnis unauffällig bleibt, oder die notwendigen Kriterien nicht hinreichend erfüllt werden. Ich hatte als Eltern im ADI-R bereits mehrfach Psycholog:innen, Sozialarbeiter:innen, Erzieher:innen oder Lehrer:innen, die Autismus beim eigenen Kind nicht wahrgenommen haben, da hochgradiges Masking vorlag.Daher werte ich das ADI-R als einen Hinweisgeber im diagnostischen Prozess, verlasse mich jedoch weitaus mehr auf die Ergebnisse der ausführlichen Anamnese und würde mich bei Autismus-auffälliger Anamnese und unauffälligem ADI-R immer für eine Diagnose entscheiden.

Angst zu haben, dass Eltern ihr Kind als vollkommen unauffällig hinsichtlich der Fragen im ADI-R empfanden, da sie selbst von Autismus betroffenen sind, müssen Sie jedoch nicht. Das ADI-R fragt weniger, ob etwas unauffällig oder auffällig war, sondern ob ein konkretes Verhalten gezeigt wurde oder nicht. Zum Beispiel- „Wenn sich [Proband] jemandem zugewendet hat, um mit diesem zu sprechen oder um ihn dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun, lächelt er/sie ihn dann an zur Begrüßung?“ Schwieriger zu beurteilen wird es natürlich, falls ein Elternteil selbst keinen Blickkontakt hielt oder diesen nicht beim Kind suchte. (Das würde aber während der Durchführung des ADI-R auch auffallen.)