Deutliche Unterschiede von ADHS bei Erwachsenen und Kindern, sowie bei weiblichen und männlichen Betroffenen
Wenn wir von der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sprechen, haben viele Menschen sofort das Bild eines energiegeladenen, lauten Kindes (Jungen?) vor Augen, das im Klassenzimmer unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutscht, kippelt und den Blick durch den Raum schweifen lässt, dabei mit den Gedanken oft ganz woanders ist. Doch ADHS ist weitaus vielschichtiger. Es ist keine reine „Kinderkrankheit“, sondern eine lebenslange neurologische Besonderheit, die sich je nach Alter und Geschlecht unterschiedlich manifestieren kann.
ADHS im Kindesalter: Zwischen „Hans Dampf“ und „lautloser Tagträumerin“
Kinder mit ADHS fallen oft schon in der frühen Schulzeit auf. Manche, wie zum Beispiel Mika, 8 Jahre alt, sind die klassischen „Zappelphilippe“. Mika steht während des Unterrichts plötzlich auf, unterbricht andere, plappert ununterbrochen und scheint kaum in der Lage, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Seine Lehrer verzweifeln, bei seinen Eltern häufen sich Sorgenfalten an. Die Diagnose ADHS bei Jungen ist oft schnell gestellt, da sie ihre Impulsivität und Hyperaktivität oft deutlich nach außen zeigen.
Doch dann gibt es Kinder wie Jona. Jona ist ruhig, verträumt, scheint oft nicht ganz da zu sein. Ihre Gedanken schweifen ab, sie beginnt ihre Hausaufgaben zwar, beendet sie aber nicht, weil sie sich in einer Fantasiewelt verliert. Sie ist nicht laut, stört niemanden, daher bleibt ihre ADHS oft unentdeckt. Ihre Lehrer halten sie für verträumt, vielleicht ein wenig unorganisiert, aber keinesfalls für ein Kind mit ADHS. Das ist einer der größten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen mit ADHS. Während Jungen häufig durch Hyperaktivität auffallen, äußern sich die Symptome bei Mädchen oft in innerer Unruhe, Vergesslichkeit und Tagträumerei.
Was passiert mit Mika und Jona, wenn sie erwachsen werden?
Mika, der energiegeladene Junge, wird nicht einfach über Nacht erwachsen und überwindet seine ADHS. Die Symptome begleiten ihn ins Berufsleben, wo sie sich in einer anderen Form zeigen. Mika ist nun 30, arbeitet in einem kreativen Bereich und hat es geschafft, seine Impulsivität in innovative Ideen zu verwandeln. Doch das Chaos ist geblieben. Sein Schreibtisch gleicht einem Schlachtfeld, Deadlines verpasst er häufig, und während Meetings unterbricht er seine Kollegen, weil er seine Gedanken nicht zurückhalten kann. Er will nicht unfreundlich sein, doch seine Ungeduld ist größer als seine Impulskontrolle.
Jona hingegen hat sich mittlerweile perfektioniert in ihrer Tarnung. Sie schreibt akribische To-do-Listen, versucht penibel organisiert zu sein, setzt sich viele Erinnerungen im Handy und doch verpasst sie immer wieder Termine. Ihre innere Unruhe hat sie nie verlassen, nur merkt es außen kaum jemand, da sie diese maskiert. Sie gilt als zerstreut, als „liebe Kollegin, die ein bisschen verpeilt ist“. Aber niemand sieht die Mühe, die sie aufbringen muss, um nicht abgehängt zu werden. Während Mika für sein quirliges Wesen als „kreativer Chaot“ gefeiert wird, kämpft Jona mit Selbstzweifeln, weil ihre ADHS nach innen wirkt, nicht nach außen.
Geschlechterunterschiede bei ADHS: Warum Frauen oft später diagnostiziert werden
Dass ADHS bei Frauen häufig unerkannt bleibt, liegt an den unterschiedlichen Ausprägungen. Während Jungen mit ADHS oft laut, unruhig und impulsiv sind, zeigen viele Mädchen und Frauen eine nach innen gerichtete Variante. Sie sind verträumt, haben Schwierigkeiten mit Zeitmanagement, neigen zu ständiger Selbstkritik und rutschen nicht selten in Depressionen oder Angststörungen ab.
Ein Beispiel dafür ist Junis, 35 Jahre alt, die erst vor Kurzem erfahren hat, dass sie ADHS hat. In der Schule war sie das Mädchen, das immer leise mitgespielt hat, das sich angepasst hat, schüchtern war. Ihre Noten waren durchwachsen, aber nie schlecht genug, um aufzufallen. Heute ist sie beruflich erfolgreich, doch sie leidet unter ständiger Erschöpfung. Sie braucht Stunden, um einfache Aufgaben zu erledigen, weil ihr Kopf niemals stillsteht und viele Gedankenstränge gleichzeitig aktiviert sind. Ihr wurde immer gesagt, sie sei ängstlich, zu zurückhaltend oder überempfindlich, doch niemand hat erkannt, dass es ADHS war, die ihr das Leben so schwer machte.
Leon, ebenfalls 35 und ebenfalls ADHS-betroffen, hat mit anderen Problemen zu kämpfen. Während Junis sich hinter ihrer Perfektion versteckt, platzt Leon oft mit unüberlegten Kommentaren heraus. Er liebt es, neue Projekte zu starten, aber verliert das Interesse, sobald Routine einsetzt. Das hat ihn schon einige Jobs gekostet. Während Junis sich nach innen selbst zerfleischt, erlebt Leon die Folgen seines ADHS in Form von Konflikten mit Vorgesetzten und gescheiterten Projekten.
Die unsichtbare Last: Komorbidität bei ADHS
ADHS kommt selten allein. Viele Betroffene leiden unter weiteren Herausforderungen wie Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen oder Essstörungen. Junis hat mit ständiger Selbstkritik zu kämpfen und leidet unter wiederkehrenden depressiven Episoden und Symptomen einer generalisierten Angststörung. Leon hingegen hat eine riskante Seite an sich, die ihn immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten bringt. Er neigt zu Impulskäufen und spontanen Entscheidungen. Er meint es nie böse, aber seine ADHS macht es schwer, langfristig kluge Entscheidungen zu treffen.
Um die innere Unruhe und die emotionale Überlastung zu bewältigen, greift Leon regelmäßig zu Alkohol. Anfangs genoss er ein Bier oder ein Glas Wein, um sich zu entspannen und den Stress des Tages hinter sich zu lassen. Es begann als eine Art „Belohnung“ nach einem schweren Arbeitstag, eine Möglichkeit, um die Gedanken abzustellen und ein Gefühl von Normalität und Kontrolle zu erfahren. In geselligen Runden war er derjenige, der schnell zur Flasche griff, um sich sicherer zu fühlen und um mit seinem Gefühl der Unsicherheit umzugehen.
Bei Junis hingegen beginnen sich die einst sanften, kreativen Strömungen in ihrem Inneren mit der Zeit zu verändern. Die Träume, die sie einst mit Freude durchstreifte, werden zunehmend von einem Gefühl der Traurigkeit überlagert. Die innere Unruhe, die in ihr wohnt, wandelt sich in eine bleierne Schwere. Statt in den Tag zu träumen, findet sie sich immer häufiger in einem Zustand der Starre wieder, bedrückt von Gedanken, die wie unbeantwortete Fragen um sie kreisen.
Wie kann man Betroffenen helfen?
Der Schlüssel liegt in Verständnis und individueller Unterstützung. Unternehmen könnten flexibelere Arbeitsbedingungen schaffen, um ADHS-Betroffenen den Raum zu geben, in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten. Günstig sind Jobs, die nicht eine unbedingt 9-to-5-Arbeitsweise erfordern, sondern kreative und fokussierte Schübe erlauben. Nicht wenige Menschen mit ADHS können wie im „im Flow“ 14 Stunden durcharbeiten, benötigen dann aber auch Möglichkeit, sich an anderen Tagen zu erholen.
Frauen wie Junis brauchen mehr Bewusstsein für ADHS in der Medizin, damit sie nicht weiter nur mit Depressionen fehlbehandelt werden, sondern die Wurzel ihrer Probleme erkannt wird. Kinder wie Jona brauchen Lehrer, die ihre leise Art nicht als „nur verträumt“ abstempeln, sondern erkennen, dass hier vielleicht eine ADHS vorliegt, die genauso ernst zu nehmen ist wie die ihres Klassenkameraden Mika. Das ist sowieso das Leid der Ruhigen- sie werden häufig übersehen, während „die Lauten“ die Aufmerksamkeit bündeln.
ADHS ist keine Einheitsdiagnose, sondern – wie auch Autismus – ein Spektrum von Herausforderungen und Stärken. Indem wir die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, zwischen Kindern und Erwachsenen anerkennen, können wir Betroffenen helfen, ihre Stärken zu nutzen und sich nicht von den Schwächen definieren zu lassen. Denn ADHS mag manchmal das Leben erschweren, aber mit der richtigen Unterstützung kann es auch ein wertvoller Teil der eigenen Identität sein.