Liegt Autismus oder eine Persönlichkeitsstörung vor?
Auch wenn viele Patient:innen, die mit selbstdiagnostizierter Autismus-Spektrum-Störung zu mir in die Diagnostik kommen, in der Tat Autist:innen sind, ist dies nicht in allen Fällen so. Ich kann hier natürlich nur von meinen Erfahrungen berichten und kann nicht beurteilen, wie dies in anderen Praxen ist- meiner Erfahrung nach liegt dann häufig eine Persönlichkeitsstörung vor. Meistens ist dies eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Selten liegt vorrangig eine Zwangsstörung oder zwanghafte Persönlichkeitsstörung vor. Soziale Phobien ergeben sich in der Diagnostik ebenfalls häufig, oft aber als Begleiterkrankung zu Autismus und nicht als primäres Störungsbild.
Woran ist nun festzumachen, ob Autismus oder eine Persönlichkeitsstörung vorliegt? Die wichtigsten Informationen über die vorliegende Symptomatik erhalte ich während der mehrstündigen Anamnese anhand der Schilderung der Symptomatik und durch benannte oder gezeigte Erlebens- und Verhaltensweisen. Auch testdiagnostische Ergebnisse können ein guter Hinweisgeber sein. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Autismus-Spektrum-Störungen und Persönlichkeitsstörungen ist das Alter des Einsetzens der Symptomatik. Erstere beginnen weitaus früher als zuletzt genannte. Häufig sind Auslöser, bzw. bestimmte andauernde Lebensumstände bei dem Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung auszumachen. Auch inhaltlich werden anamnestisch ganz andere Themen bei einer Persönlichkeitsstörung sichtbar, als dies bei Autismus der Fall ist.
Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal beider Störungsbilder ist die Emotionsregulation, die bei Persönlichkeitsstörungen verglichen mit anderen emotionalen Kompetenzen meist deutlich herabgesetzt ist. Auch bei Autismus-Spektrum-Störungen kann es Schwierigkeiten in der Emotionsregulation geben. Präsenter sind hier aber öfter Defizite im Erkennen und im Ausdruck eigener Gefühle oder im Erkennen der Gefühle von anderen. Einige Überschneidungen zwischen Autismus und einer Persönlichkeitsstörung gibt es natürlich (sonst würde man selbstdiagnostisch die Störungsbilder ja auch nicht verwechseln), aber viele Symptome und Symptom-Bündel der Autismus-Spektrum-Störung sind sehr prägnant und einzigartig und unterscheiden sich somit von anderen Störungsbildern deutlich und unverkennbar. Dies gilt auch für die Abgrenzung zur ADHS (die sich in einigen Punkten mit Autismus und der Borderline-Persönlichkeitsstörung überschneidet, in vielen jedoch auch nicht).
Notwendig ist es also, die oft vielfältigen Symptome zu „entwirren“ und zu strukturieren und sinnvolle Hypothesen über die Ätiologie und den Verlauf der Symptomatik zu entwickeln. Insbesondere unter der Berücksichtigung, dass sich zu den Grundstörungen in den meisten Fällen komorbide Störungsbilder, wie bspw. eine Depression (auch „autistischer Burnout“), Angststörung, Essstörung oder eine Suchterkrankung entwickelt haben können, oft sogar auch mehrere Begleiterkrankungen. Häufig kommen Patient:innen mit einem „großen Blumenstrauß“ an Diagnosen (und langjähriger psychiatrischer oder psychotherapeutischer Erfahrung) zu mir, die oft auch zutreffen. Es wurde aber häufig die eigentliche Ursache, bspw. Autismus und Probleme wegen der Nichtpassung in die neurotypische Welt, nicht bemerkt. Neben vielen Fragen im Anamnesegespräch helfen zur Abklärung und Einordnung der Symptomatik auch gute spezifische Testverfahren und strukturierte Interviews, die ich während der Diagnostik durchführe.
Die komorbiden Störungsbilder führen oft zu massiven Beeinträchtigungen der Lebensqualität und sind häufig der Auslöser für die Aufnahme einer Psychotherapie oder für eine umfassende Diagnostik, um endlich Klarheit zu erhalten und hilfreiche Strategien für den Alltag entwickeln zu können. Bei Autismus fehlen insbesondere Strategien im Umgang mit Erschöpfung oder Wahrnehmungsüberempfindlichkeiten sowie mit der ständig leeren „sozialen Batterie“, wegen welcher es nicht möglich ist, unbeeinträchtigt am Gesellschaftsleben teilzunehmen.
Natürlich können Autismus und Persönlichkeitsstörungen auch komorbid vorliegen und die Persönlichkeitsstörung wegen traumatischer Erfahrungen erworben worden sein. Das erscheint mehr als plausibel, wenn man betrachtet, welche Schwierigkeiten durch Defizite in der Kommunikation, sozialen Interaktion und häufig folgenden mangelnden Bindungsfähigkeit bei Autismus bestehen können, einerseits zu den Eltern, andererseits auch zu der Peergroup. Vielfach kann dies zu einem großem Leidensdruck und dem Gefühl des Ausgeschlossenseins führen. Doch auch bei dem Vorhandensein beider Störungsbilder sind und bleiben die autistischen Symptom-Bündel unverkennbar und werden nicht von der Persönlichkeitsstörung soweit überlagert, dass sie nicht mehr zu erkennen sind. Dies gilt sowohl für männliche als auch für weibliche Betroffene, die oft früh beginnend weitreichende Anpassungsmechanismen erworben haben und auf den ersten Blick oft unauffälliger erscheinen als männliche Betroffene.
Doch auch bei dem Vorliegen einer primären Persönlichkeitsstörung besteht meistens ein großer Leidensdruck. Bei einer Borderline-Störung kann bspw. die Symptomatik schnell wechseln und mal werden depressive Symptome präsenter, mal ängstliche, mal zwanghafte oder Probleme im Essverhalten oder ein Suchtverhalten verstärkt sich usw. Betroffene scheinen dem meist hilflos ausgesetzt und wünschen sich einfach nur Klarheit. Ich kann verstehen, dass Betroffene sich in solchen Fällen „an jeden Strohhalm klammern“ und sich umfassend im Internet über die eigene Symptomatik informieren, weshalb sie auf Autismus aufmerksam werden.
Leider ist es so, dass grade Persönlichkeitsstörungen in der Gesellschaft einen schlechten Ruf haben und Betroffene sich eher dafür schämen, als offen damit umzugehen. Daher wird selbst nach diagnostizierter Persönlichkeitsstörung nach einer alternativen Erklärung gesucht und Autismus erscheint sozial weitaus erwünschter, akzeptierter und zurzeit auch medial viel präsenter zu sein als eine Persönlichkeitsstörung. Es wäre für viele also erstrebenswerter, eine Autismus Diagnose zu erhalten, als eine Persönlichkeitsstörung in die eigene Identität integrieren zu müssen. Und auch, wenn ich die Denkweise durchaus verstehen und nachvollziehen kann, würde eine Autismus Diagnose in dem Fall nicht helfen, besonders, da es sehr spezielle therapeutische Interventionen bei Persönlichkeitsstörungen gibt, die bei Autismus ohne komorbide Persönlichkeitsstörung natürlich nicht angewendet werden. Es ist also nicht möglich und wünschenswert, Autismus statt einer Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, wenn diese nicht vorliegt, da es im Umgang mit sich selbst und anderen einfach nicht weiterhelfen würde. Das Gute an Persönlichkeitsstörungen ist aber, dass sie heilbar sind, bzw. man einen deutlich besseren Umgang damit finden kann. Zweiteres gilt für Autismus natürlich auch!
Es ist in meiner Praxis möglich, sowohl ein Autismus- oder ADHS Screening durchzuführen, als auch ein Screening hinsichtlich Persönlichkeitsstörungen. Melden Sie sich gerne!