ADHS und Selbstmedikation (Ritalin, Nikotin, Cannabis…)
Es beginnt oft beiläufig. Ohne Plan, ohne Entscheidung, ohne großes Drama. Eine Zigarette nach der Schule. Ein Bier zum Runterkommen. Der Kaffee, der nicht wacher, sondern ruhiger macht, der Energy Drink, der hilft, sich zu fokussieren. Der Griff zum Essen, wenn der Kopf zu laut wird. Kleine Dinge, die scheinbar nichts bedeuten. Die einfach funktionieren. Und genau deshalb nicht hinterfragt werden.
Viele Menschen mit ADHS merken schon früh, dass ihr Alltag anstrengender ist als bei anderen. Dass sie mehr kämpfen müssen, um dieselben Dinge hinzubekommen. Dass sie schneller gereizt, überfordert und erschöpft sind. Dass sie von anderen als unorganisiert, übertrieben oder sprunghaft wahrgenommen werden. Und dass es kaum jemanden gibt, der wirklich versteht, wie sehr das Innenleben aus dem Ruder geraten kann.
In dieser Daueranspannung entstehen Wege, das auszuhalten. Wege, die nicht immer gesund, aber verständlich sind. Substanzkonsum gehört oft dazu. Nicht aus einem Impuls der Rebellion oder der Sucht heraus, sondern als pragmatischer Versuch, das eigene Nervensystem irgendwie zu regulieren. Wenn die inneren Reize zu laut werden und das Gedankenkarussell nicht mehr aufhört, dann kann ein Glas Wein oder ein Joint den Unterschied machen zwischen Zusammenbruch und Funktionieren. Wenn die Konzentration ständig wegdriftet, hilft manchmal nur der dritte Kaffee in Folge. Wenn das innere Chaos nicht mehr sortierbar ist, dann bringt der Nikotinkick kurzzeitig eine merkwürdige Klarheit. Und wenn der innere Druck wächst, dann kann auch exzessives Essen oder Scrollen durch soziale Medien ein Ventil sein.
Die wenigsten nennen das Selbstmedikation. Viele merken nicht einmal, dass sie dabei sind, sich selbst zu behandeln. Es ist einfach eine Gewohnheit, ein Muster, ein Reflex. Ein kurzer Moment der Ruhe. Und weil es funktioniert, stellt sich keine unmittelbare Notwendigkeit ein, etwas daran zu ändern. Das eigentliche Problem liegt tiefer. Es liegt im chronischen Gefühl der Überforderung, im Mangel an echten Pausen, im ständigen Versuch, mit einem Nervensystem zu leben, das mehr aufnimmt, weniger filtert und deutlich schneller an seine Grenzen stößt.
ADHS wird oft reduziert auf Vergesslichkeit oder Unruhe. Aber hinter diesen Begriffen steckt ein komplexes Erleben. Ein ständiger Wechsel zwischen Überreizung und Erschöpfung. Eine emotionale Labilität, die sich schlecht steuern lässt. Und eine Reizoffenheit, die dazu führt, dass innere Zustände sich kaum entziehen lassen. In solchen Momenten werden Substanzen zu Werkzeugen. Sie schaffen Abstand. Sie erzeugen eine Illusion von Kontrolle. Sie geben das Gefühl, sich wieder im Griff zu haben.
Gleichzeitig wachsen mit der Zeit die Nebenwirkungen. Die Dosis muss erhöht werden. Die Wirkung lässt schneller nach. Die Abhängigkeit vom Ritual wird stärker. Und oft kommt irgendwann das schlechte Gewissen dazu. Die heimliche Scham. Die stille Ahnung, dass diese Strategien langfristig mehr schaden als helfen. Aber was sonst tun, wenn das Gehirn ohne diese Hilfsmittel nicht mehr runterkommt? Wenn das Funktionieren im Alltag ohne sie kaum noch denkbar ist. Wenn selbstregulierende Techniken zu anstrengend erscheinen, weil es dafür eine Stabilität bräuchte, die gar nicht vorhanden ist.
Besonders problematisch wird es, wenn gleichzeitig eine offizielle Behandlung stattfindet. Viele ADHS-Betroffene erhalten Medikamente, die tatsächlich helfen. Stimulanzien, die Struktur bringen, Fokus ermöglichen, den Alltag erleichtern. Doch auch dann kann der Wunsch nach zusätzlicher Beruhigung bleiben. Denn Medikamente schaffen keine Pausen. Sie regulieren das System, aber sie ersetzen nicht die Erholung. Wenn die Wirkung nachlässt oder der Tag zu fordernd war, ist der Weg zurück zu den alten Mustern oft nicht weit.
In therapeutischen Kontexten bleibt dieses Thema häufig unbeachtet. Zu groß ist die Sorge, dass eine offene Ansprache von Substanzkonsum zu Vorwürfen oder einem Entzug von Medikamenten führen könnte. Zu tief sitzt die Angst, dass der eigene Umgang als moralisches Versagen gewertet wird. Und zu oft fehlt auf professioneller Seite das Verständnis für die funktionale Rolle von Substanzen im Alltag mit ADHS.
Dabei wäre genau das entscheidend. Ein sachlicher Blick auf das, was hinter bestimmten Konsummustern steckt. Eine Analyse, die nicht mit Etiketten wie Sucht oder Selbstschädigung beginnt, sondern mit der Frage, was das System zu stabilisieren versucht. Ein Verständnis dafür, dass viele dieser Strategien nicht aus Leichtsinn, sondern aus Not entstehen. Und dass sie sich oft nicht einfach abstellen lassen, solange das eigentliche Problem bestehen bleibt.
Wer mit ADHS lebt, hat häufig nie gelernt, wie echte Regulation funktioniert. Viele Strategien sind improvisiert. Sie entstehen aus jahrelanger Erfahrung mit Überreizung, aus der Notwendigkeit, in sozialen oder beruflichen Kontexten zu funktionieren, obwohl der innere Zustand kaum noch tragfähig ist. Und genau deshalb sind diese Strategien so hartnäckig. Sie erfüllen eine Funktion, selbst wenn sie langfristig Schaden anrichten.
Ein bewusster Umgang mit Substanzkonsum bedeutet nicht, alles sofort zu beenden. Es bedeutet, hinzusehen. Zu verstehen, was hinter dem Konsum steht. Zu prüfen, was sich anders organisieren ließe. Und dabei nicht mit Verboten oder moralischem Druck zu arbeiten, sondern mit Neugier und Selbstrespekt.
ADHS ist kein Charakterproblem. Es ist auch keine Lifestyle-Variante von Unruhe. Es ist eine neurologische Variante des Menschseins, die andere Anforderungen stellt. Wer diese Anforderungen nicht versteht, wird die Reaktionen darauf falsch bewerten. Und wer nur auf die Symptome schaut, verpasst den Kern.
Manche Menschen mit ADHS trinken abends, um das Gedankenrauschen zu dämpfen. Andere greifen zu Cannabis, weil das Nervensystem sonst keinen Ausweg findet. Wieder andere verlieren sich in Serien, Süßigkeiten oder Arbeit, weil das die Welt kurzfristig strukturierbar macht. Das ist nicht ideal, aber es ist nachvollziehbar.
Was fehlt, ist ein Umgang, der diese Realität nicht ignoriert. Kein Pathos, keine Romantisierung, keine dramatischen Schlussfolgerungen. Sondern eine nüchterne, achtsame Betrachtung dessen, was der Alltag mit einem Nervensystem erfordert, das schlicht anders funktioniert. Und die Frage, welche Wege möglich sind, um dabei nicht kaputtzugehen.