ADHS: Hinter dem Kalender beginnt das Chaos
Manche Menschen leben einfach gern am Rand des Nervenzusammenbruchs, sie nennen es Alltag, andere nennen es energiegeladenes Organisationstalent mit einem Hauch von Chaos, und wieder andere würden es vermutlich einfach nur ADHS nennen, wenn sie wüssten, worauf sie da eigentlich schauen. Es sind genau die Menschen, die man für besonders engagiert hält, weil sie sich fünfmal am Tag neu erfinden, kreativ sind, alles gleichzeitig machen und trotzdem noch lächeln, während sie vergessen haben, was sie ursprünglich in der Küche wollten. Der Kaffee ist längst kalt, der Föhn liegt zwischen Zahnpasta und Terminzettel und irgendwo ruft jemand, dass man sich beeilen soll. Dazu ein Vor-sich-hin-murmeln, „Schlüssel, Handy, Portemonnaie, Schlüssel, Handy, Portemonnaie, Schlüssel, Handy, Portemonnaie…“.
Wenn ADHS funktioniert, dann sieht es gar nicht aus wie ADHS. Dann sieht es aus wie eine gut geölte Maschine, die aus Listen, Erinnerungen, Kalenderfarben und einer gewissen inneren Unruhe besteht, die produktiv wirkt, wie endlose Energie wirkt, obwohl sie sich eigentlich wie Daueranspannung anfühlt. Es sieht aus wie Effizienz, wie Zielstrebigkeit, wie ein Anflug von Kontrollbedürfnis, der charmant als „ein bisschen chaotisch, aber sympathisch“ durchgeht. Was niemand sieht, ist die Müdigkeit dahinter, die innere Jagd nach Struktur, die ständige Anstrengung, nicht zu vergessen, was man nicht vergessen darf. Und dabei nicht zu zeigen, wie schwer es manchmal ist, bei sich selbst zu bleiben, während alles um einen herum zu laut, zu schnell oder einfach zu viel ist.
Viele Menschen mit ADHS haben früh gelernt, sich nicht anmerken zu lassen, wie anstrengend dieser Alltag wirklich ist, sie haben sich angepasst, optimiert, analysiert und perfektioniert, damit niemand merkt, wie oft sie gedanklich abschweifen, wie oft sie mitten im Satz vergessen, worum es ging, und wie schwer es ist, Pausen zuzulassen, weil dann alles von jetzt auf gleich kippt. Sie entwickeln Strategien, um zu funktionieren, sie übererfüllen Erwartungen, sie leisten (zu) viel, aber nicht, weil es ihnen leichtfällt, sondern weil sie es müssen, um nicht aufzufallen, niemanden zu enttäuschen, nicht ständig falsch oder „verpeilt“ zu wirken.
Und wenn es dann irgendwann nicht mehr geht, wenn die Energie versiegt, der Fokus nicht mehr künstlich herstellbar ist, wenn der Körper erste Signale sendet, die Seele müde wird und das Gleichgewicht verloren geht, dann ist da plötzlich eine große Ratlosigkeit, vor allem bei den anderen. Denn so kennt man sie nicht, die, die immer alles im Griff haben, die Listen schreiben, sich „lustigerweise“ die Hand bekritzeln, mit Dingen, die sie sich merken wollen (top Erinnerungsmöglichkeit übrigens) und zuverlässig wirken, obwohl sie abends heulend vor der Wäsche sitzen, weil der Geräuschpegel im Supermarkt das letzte bisschen Konzentration gekillt hat. Es heißt dann oft, das könne doch kein ADHS sein, schließlich sei man doch so strukturiert, man habe doch einen Kalender (und als Erinnerung an diesen einen weiteren), man sei doch nicht hibbelig, man sei doch so leistungsfähig. Die vielen kleinen Chaos-Häufchen aus Begonnenem und nicht Beendetem oder Dingen, die man vergessen hat, bleiben anderen oft verborgen. „Wann ist Ihre Tochter geboren?“ – „Äääääh…“
Was dabei übersehen wird, ist, dass ADHS viele Gesichter hat, dass nicht jede Unruhe sichtbar, nicht jede Ablenkbarkeit laut und nicht jede Reizüberflutung dramatisch ist. Man kann sehr wohl ADHS haben und gleichzeitig funktionieren. Man kann sich anpassen, sich zusammenreißen, sich perfektionieren, bis es niemandem mehr auffällt, nicht einmal einem selbst, weil es irgendwann so normal geworden ist, dass man sich gar nicht mehr erinnern kann, wie es wäre, wenn das Gehirn nicht gleichzeitig tanzen, rennen, grübeln und sortieren würde.
Vielleicht ist aber irgendwann der richtige Zeitpunkt, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, ob das ständige Funktionieren wirklich dasselbe ist wie innere Stabilität. Vielleicht lohnt es sich, einmal hinzuschauen, hinter die Masken, hinter das Lächeln, hinter den minutiös durchgeplanten Alltag, um herauszufinden, ob das, was so gut funktioniert, nicht vielleicht einfach nur sehr gut kompensiert ist. Und vielleicht wäre eine Diagnose dann kein Makel, sondern eine Erleichterung. Nicht, weil sie alles erklärt, aber weil sie endlich Worte findet für das, was so lange keinen Namen hatte.
ADHS muss nicht laut sein. Oft reicht es schon, wenn es dauerhaft Energie kostet, im Kopf zehn Gedankenstränge gleichzeitig laufen und man das Gefühl hat, irgendwie immer hinterherzuhinken, obwohl von außen alles normal aussieht. Wer genauer hinschaut, erkennt vielleicht früher, dass all das kein persönliches Scheitern ist, sondern ein anderes Verarbeiten der Welt. Und wer sich darauf einlässt, bekommt womöglich die Chance, den eigenen Alltag etwas passender zu gestalten. Nicht perfekt, aber vielleicht ein bisschen leichter und mit mehr Rücksicht auf sich selbst und der Wertschätzung dafür, wer man ist und was man leistet.