Übergänge im Alltag – warum kleine Schritte für neurodivergente Menschen oft ein großes Problem sind
Übergänge im Alltag gehören zu den größten Stolpersteinen für viele neurodivergente Menschen. Es sind die scheinbar kleinen Schwellen zwischen zwei Tätigkeiten, die für andere selbstverständlich wirken und trotzdem unverhältnismäßig schwerfallen können. Der Feierabend nach einem langen Arbeitstag, der Schritt vom Sofa ins Badezimmer, der Wechsel vom Sport in die Dusche oder von Freizeit zurück in die Arbeit.
Besonders deutlich zeigt sich das bei der Nutzung von Social Media. Ein freier Vormittag ist da, eigentlich wäre Sport geplant, doch stattdessen geht Stunde um Stunde auf TikTok oder Insta verloren. Das Scrollen fühlt sich zunächst nach Entspannung an, gleichzeitig wächst das schlechte Gewissen, weil der eigentliche Plan nicht umgesetzt wird. Am Ende fehlt die Energie, den Übergang zu schaffen. Die Zeit, die für Sport gedacht war, ist vergangen und der Druck ist größer geworden.
Ähnlich schwer fällt es, den ersten Schritt in Richtung Bewegung überhaupt zu gehen. Sport kann Freude machen, doch das Aufraffen davor zieht sich oft endlos hin. Das Umziehen, das Bereitlegen einer Wasserflasche, das Anfangen selbst, alles erscheint wie ein riesiger Berg, während der Körper weiter stillhält. In diesen Momenten kostet der Übergang ungleich mehr Kraft als das Training selbst.
Auch andere Alltagssituationen folgen diesem Muster. Einkaufen wird so lange hinausgezögert, bis es kaum noch Vorräte gibt. Termine rücken näher, aber der Aufbruch gelingt erst im allerletzten Moment. Schon das Aufstehen vom Sofa, wenn man eigentlich in die Küche gehen möchte, kann zur Hürde werden. Manche Menschen sitzen lange am Esstisch, weil der nächste Schritt, den Tisch abzuräumen oder die Spülmaschine einzuräumen, überproportional groß wirkt. Auch das Zubettgehen kann schwierig sein, wenn zwischen einem gemütlichen Fernsehabend und dem Einschalten des Lichts noch viele kleine Handlungen wie Zähneputzen oder das Herrichten der Kleidung für den nächsten Tag liegen. Selbst nach dem Duschen bleibt man manchmal im Handtuch sitzen, weil der Weg in die frische Kleidung einen weiteren Übergang darstellt.
Im Arbeitsleben zeigt sich der gleiche Mechanismus. Wer konzentriert arbeitet, bleibt häufig noch lange im Flow, obwohl der Feierabend längst erreicht ist. Das Beenden der Arbeit fällt schwerer als die Arbeit selbst. Ebenso schwer kann es sein, von einer Aufgabe zur nächsten zu wechseln, etwa von einer E-Mail in ein längeres Dokument oder von einer Planungsaufgabe in ein Telefonat. Ein klassisches Ritual, um den Feierabend ist der Wechsel der Kleidung, den nicht nur neurodivergente Menschen so begehen.
Die Ursachen sind unterschiedlich, die Wirkung jedoch vergleichbar. Autistische Menschen erleben Übergänge als Bruch in der gewohnten Struktur. Jede Veränderung verlangt, Bekanntes loszulassen und sich innerlich neu zu orientieren. Menschen mit ADHS haben eher Schwierigkeiten, Handlungen zu initiieren. Sie wissen, dass ein nächster Schritt ansteht, schaffen es jedoch nicht, ihn in Gang zu setzen. Hinzu kommt oft die Angst, sich zu überfordern oder den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Das Ergebnis ist dasselbe. Der Übergang stockt und der Alltag bleibt an einer unsichtbaren Schwelle hängen.
Um diese Schwellen leichter zu machen, gibt es verschiedene Strategien. Eine hilfreiche Möglichkeit ist, Übergänge in kleine Schritte zu zerlegen. Wer sich Sport vornimmt, beginnt nicht mit dem ganzen Training, sondern zunächst mit dem Anziehen der Sportschuhe, dann mit dem Bereitstellen von Wasser und schließlich mit dem Einschalten von Musik. Jeder kleine Schritt bringt Bewegung in den Prozess, bis der große Übergang nicht mehr so schwer wirkt.
Auch Rituale können unterstützen. Ein festes Zeichen für den Feierabend wie eine Tasse Tee oder ein bestimmtes Lied für den Start in den Sport signalisiert dem Gehirn klar, dass jetzt etwas Neues beginnt. Manche Menschen profitieren zusätzlich von Zwischenstationen. Ein kurzer Gang an die frische Luft zwischen Arbeit und Freizeit oder ein paar Minuten Ruhe nach dem Training geben Zeit, den Wechsel innerlich nachzuvollziehen.
Externe Hilfen entlasten ebenfalls. Erinnerungen am Handy, kleine Checklisten oder feste Verabredungen helfen, den Übergang nicht allein steuern zu müssen. Entscheidend ist dabei, Übergänge nicht als persönliche Schwäche zu sehen. Wenn Social Media oder das Aufraffen zum Sport stundenlang blockiert, liegt das nicht an Bequemlichkeit. Es zeigt lediglich, dass das Gehirn in diesen Momenten mehr Energie für den Wechsel benötigt.
Wer akzeptiert, dass Übergänge anstrengend sind, kann aufhören, sie als Versagen zu betrachten. Stattdessen lassen sich Wege finden, die Wechsel leichter zu machen. Ob über kleine Schritte, feste Rituale oder Hilfen von außen, jede dieser Möglichkeiten nimmt Druck und schenkt ein Stück mehr Leichtigkeit. So verlieren Übergänge ihren Schrecken und werden zu handhabbaren Teilen des Alltags.

