ADHS und Entscheidungen: Vom Lebensplan bis zur Zahnpastatube ist alles eine Wissenschaft

ADHS und Entscheidungen: Vom Lebensplan bis zur Zahnpastatube ist alles eine Wissenschaft

ADHS und Entscheidungen Warum „egal“ nie wirklich egal ist

Entscheidungen können einen merkwürdigen Beigeschmack haben, wenn man mit ADHS lebt. Schon die kleinen Dinge können sich anfühlen wie eine Prüfungssituation. Man steht vor einem Supermarktregal, zehn Sorten Nudeln liegen nebeneinander, und während andere längst die gewünschte Packung greifen, läuft im Kopf ein ganzer Film ab. Welche ist günstiger, welche schmeckt besser, welche gab es beim letzten Mal, habe ich mich da vertan, sollte ich vielleicht mal etwas Neues probieren. Aus einer simplen Handlung wird eine Gedankenspirale, die viel Energie frisst. Dieses Phänomen taucht nicht nur beim Einkaufen auf, sondern zieht sich durch alle Lebensbereiche. Entscheidungen fordern ein ständiges Sortieren von Optionen, und genau das fällt bei ADHS oft besonders schwer.

Ein Grund dafür liegt in der Art, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Menschen mit ADHS neigen dazu, jede Möglichkeit gleich intensiv wahrzunehmen. Wo andere spontan etwas aussortieren, bleibt bei ADHS alles gleich wichtig. Jede Variante wird im Kopf durchgespielt, keine wirkt eindeutig besser oder schlechter. Dazu kommt die Angst, die falsche Wahl zu treffen. Wenn die innere Stimme ständig zweifelt, ob man sich richtig entschieden hat, wird selbst die kleinste Entscheidung zu einer Belastung.

Das klingt im Alltag manchmal banal, hat aber eine enorme Wirkung. Wer schon beim Wählen eines Duschgels mehrere Minuten braucht, geht mit einem Gefühl von Überforderung aus dem Laden. Auf Dauer summieren sich diese Kleinigkeiten und hinterlassen das Empfinden, immer zu langsam oder zu unentschlossen zu sein. Es entsteht Druck von außen, weil andere schneller handeln, und Druck von innen, weil man sich selbst als unentschlossen oder kompliziert empfindet.

Schwieriger wird es bei größeren Entscheidungen. Die Wahl einer Ausbildung, ein Umzug oder eine berufliche Veränderung sind Situationen, in denen alle möglichen Optionen endlos durchgedacht werden. Manches bleibt so lange im Kopf, bis eine Entscheidung nicht mehr frei getroffen wird, sondern von äußeren Umständen erzwungen. Oft fühlt es sich dann nicht an wie eine selbstbestimmte Wahl, sondern wie ein Hineinschlittern in eine Situation. Das verstärkt wiederum das Gefühl, nicht wirklich Kontrolle zu haben.

Interessant ist, dass ADHS hier nicht nur eine Schwäche mit sich bringt, sondern auch eine gewisse Stärke. Wer jede Möglichkeit gründlich bedenkt, kann sehr reflektiert sein. Entscheidungen werden selten leichtfertig getroffen, sondern auf vielen Ebenen geprüft. Gerade in kreativen Berufen oder Bereichen, in denen es auf Vielseitigkeit und neue Perspektiven ankommt, ist das ein Vorteil. Die Schwierigkeit liegt weniger im fehlenden Urteilsvermögen als vielmehr in der schieren Fülle der Gedanken und der Angst vor Fehlern.

Hinzu kommt, dass das Gehirn bei ADHS sehr stark auf Belohnung reagiert. Entscheidungen, bei denen eine klare sofortige Belohnung spürbar ist, fallen leichter. Ob man eine Pizza bestellt oder laufen geht, lässt sich leichter abwägen, weil der Effekt direkt spürbar wird. Komplex wird es bei Entscheidungen, deren Wirkung erst in weiter Ferne liegt. Eine Ausbildung beginnen, ein Studium durchhalten, eine Partnerschaft langfristig gestalten, all das bietet keinen schnellen Dopaminkick. Deshalb wirken solche Entscheidungen oft abstrakt und schwer greifbar. Das führt dazu, dass man sie vor sich herschiebt oder sie mehrfach ändert, sobald der Druck wächst.

Wie lässt sich dieser Druck abmildern. Ein hilfreicher Ansatz ist, Entscheidungen in kleine Schritte aufzuteilen. Statt sofort den großen Lebensplan festzulegen, kann es leichter sein, sich für einen überschaubaren nächsten Schritt zu entscheiden. Ein Praktikum ausprobieren, ein Beratungsgespräch führen, eine Probewoche starten. So entsteht ein Gefühl von Bewegung, ohne dass gleich eine endgültige Festlegung nötig ist.

Auch Routinen können unterstützen. Wenn bestimmte Entscheidungen automatisiert sind, bleibt mehr Energie für die Dinge, die wirklich wichtig sind. Wer zum Beispiel immer denselben Joghurt kauft oder morgens denselben Weg zur Arbeit nimmt, schafft sich kleine Fixpunkte, die entlasten. Damit bleiben größere Kapazitäten für Entscheidungen, die nicht delegiert werden können.

Eine weitere Hilfe besteht darin, sich selbst bewusst zu erlauben, nicht die perfekte Entscheidung treffen zu müssen. Viele Menschen mit ADHS kämpfen mit einem hohen Anspruch an sich selbst. Die Idee, es müsse immer die bestmögliche Wahl sein, blockiert das Handeln. Manchmal reicht es aber, eine gute Wahl zu treffen, die im Moment passt. Sich diesen Gedanken zu erlauben, nimmt Druck heraus und schafft Freiheit.

Hilfreich ist auch die Reflexion, dass Fehler dazugehören dürfen. Entscheidungen sind immer Momentaufnahmen. Was heute passt, kann in einem Jahr anders wirken. Dies gilt für alle Menschen, nicht nur für Menschen mit ADHS. Wenn man akzeptiert, dass eine Wahl nicht für immer gilt, sondern angepasst werden kann, sinkt der innere Druck.

Soziale Unterstützung ist ein weiterer Faktor. Entscheidungen gemeinsam zu besprechen, kann entlasten. Jemand anderes sieht oft klarer, weil er nicht in derselben Gedankenspirale steckt. Manchmal reicht es schon, die Gedanken laut auszusprechen, um eine Entscheidung leichter treffen zu können.

Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle der Selbstfürsorge. Schlaf, Bewegung und ein strukturierter Alltag können dazu beitragen, die Reizüberflutung zu reduzieren, die Entscheidungen so schwer macht. Ein ausgeruhtes Gehirn kann besser sortieren, welche Optionen wirklich relevant sind.

Am Ende bleibt die Erfahrung, dass Entscheidungen für Menschen mit ADHS zwar herausfordernd sind, aber nicht unüberwindbar. Es ist hilfreich, die eigene Art zu entscheiden zu verstehen und anzunehmen, statt sie als Schwäche abzuwerten. Wer weiß, dass sein Gehirn alle Optionen gleich stark beleuchtet, kann gezielt Strategien nutzen, um sich nicht in Details zu verlieren. Wer erkennt, dass Perfektionismus Entscheidungen blockiert, kann lernen, sich auch mit einer guten Wahl zufriedenzugeben.

Entscheidungen werden vermutlich nie das absolute Wohlfühlthema für Menschen mit ADHS sein. Aber es kann erleichternd sein, zu verstehen, warum sie so schwerfallen und dass das keine Charakterschwäche ist. Kleine Routinen, klare Abkürzungen und die Erlaubnis, nicht jede Entscheidung perfekt zu treffen, helfen dabei, den Druck rauszunehmen. Am Ende zählt nicht, ob die Wahl im Supermarktregal oder bei der nächsten Lebensplanung immer optimal war, sondern dass man vorankommt und das Leben Schritt für Schritt handhabbar bleibt.