Warum sie oft verzerrt ist… und „gleich“ nicht immer „gleich“ bedeutet
Wenn du ADHS hast, dann kennst du das bestimmt, die Zeit ist entweder dein größter Feind oder existiert quasi gar nicht. Während andere scheinbar mühelos abschätzen können, wie lange etwas dauert oder wann es Zeit ist, loszugehen, teilt sich die Welt für dich oft in zwei Kategorien: Jetzt und Nicht-Jetzt.
Alles, was nicht gerade in diesem Moment relevant ist, rückt gnadenlos in den Hintergrund. Bis es plötzlich mit voller Wucht ins Bewusstsein kracht, und dann muss alles sofort passieren. Dieses verzerrte Zeitgefühl erklärt, warum Menschen mit ADHS entweder notorisch zu spät oder viel zu früh auftauchen, Aufgaben bis zur letzten Sekunde aufschieben oder nach einer kurzen Recherche im Internet plötzlich für drei Stunden komplett abtauchen.
Das Phänomen der Zeitblindheit ist eines der Kernmerkmale von ADHS. Es beschreibt genau diese Schwierigkeit, Zeit realistisch einzuschätzen, Fristen im Blick zu behalten und sich an geplante Abläufe zu halten. Das Gehirn verarbeitet Zeit nicht kontinuierlich, es springt eher zwischen den Extremen, so wie es auch in anderen Bereichen zur „Ganz-oder-gar-nicht“-Mentalität neigt.
Ein typisches Beispiel: Eine Aufgabe, die in fünf Wochen fällig ist, scheint zunächst so weit entfernt, dass du sie erstmal ignorieren kannst. Die Tage vergehen, ohne dass du bewusst darüber nachdenkst, bis der Abgabetermin plötzlich schon am nächsten Tag liegt. Und erst dann springt dein Gehirn in den Hyperfokus-Modus und sagt, jetzt oder nie! Die Aufgabe wird mit höchster Konzentration, aber unter immensem Druck in einer einzigen, oft chaotischen Aktion erledigt und oft auch sehr erfolgreich!
Dieses Problem hat viel mit der Funktionsweise des Gehirns zu tun. Forschungen zeigen, dass Menschen mit ADHS Schwierigkeiten haben, Zeit zu organisieren und zu planen. Das liegt unter anderem an einer veränderten Aktivität des präfrontalen Kortex, der für exekutive Funktionen zuständig ist. Außerdem spielt der Neurotransmitter Dopamin eine große Rolle. Ist er nicht ausreichend vorhanden, fehlt die innere Motivation, Dinge rechtzeitig anzugehen.
Das andere Extrem kennt jeder Mensch mit ADHS auch. Wenn eine Aufgabe langweilig ist, zieht sich die Zeit endlos. Jede Minute fühlt sich an wie eine Ewigkeit und die innere Anspannung steigt extrem. Gleichzeitig kann es aber auch passieren, dass eine fesselnde Tätigkeit dafür sorgt, dass du völlig die Zeit vergisst, und was sich nach wenigen Minuten anfühlt, entpuppt sich dann als mehrere Stunden. Dieses ständige Pendeln zwischen „Zeit existiert nicht“ und „Zeit ist mein größter Feind“ macht es schwer, ein stabiles Zeitmanagement zu entwickeln.
Das beeinflusst fast alle Lebensbereiche. Pünktlichkeit wird zu einem permanenten Kampf. Die Einschätzung, wie lange es dauert, sich fertig zu machen, eine Tasche zu packen oder den Schlüssel zu finden, ist oft völlig daneben. Manche Menschen mit ADHS kommen deshalb chronisch zu spät, während andere aus Angst vor dem Zu-spät-Kommen übertrieben früh losgehen.
Auch das Aufgabenmanagement ist kompliziert. Viele Dinge bleiben so lange liegen, bis sie wirklich dringend sind, was dann furchtbaren Stress und ein schlechtes Gewissen verursachen kann. Und Ablenkungen? Ein kurzer Blick aufs Handy kann sich in eine zweistündige Social-Media-Session verwandeln. Langfristige Planung ist besonders schwer, weil Dinge ohne eine unmittelbare Konsequenz (Belohnung oder Bestrafung) einfach aus dem Bewusstsein rutschen. Rechnungen, Anträge, Arzttermine? Alles verschiebt sich, bis es wirklich nicht mehr anders geht.
Aber es gibt auch das Gegenteil, den Hyperfokus. Wenn etwas wirklich spannend ist, kannst du dich so sehr darin verlieren, dass du alles um dich herum vergisst, inklusive der Zeit, Hunger oder Müdigkeit. Klingt toll? Ist es auch, aber nur, wenn es gerade nützlich ist. Denn Hyperfokus ist schwer steuerbar. Er tritt bei intrinsisch motivierenden Tätigkeiten auf, aber nicht unbedingt dann, wenn du ihn brauchst, zum Beispiel bei einer Steuererklärung.
Doch es gibt Wege, besser mit der eigenen Zeitblindheit umzugehen. Strukturierende Maßnahmen wie visuelle Timer oder Uhren mit farblicher Anzeige machen Zeiträume greifbarer. Feste Routinen helfen, indem sie Aufgaben an klare Abläufe knüpfen, etwa immer nach dem Duschen die Tasche packen. Auch künstliche, also selbst vorgezogene, Deadlines können nützlich sein, um nicht erst unter Hochdruck ins Handeln zu kommen.
Außerdem kann es helfen, große Aufgaben in kleinere Schritte zu zerlegen. Anstatt direkt die komplette Steuererklärung anzugehen, könnte der erste Schritt sein, alle Unterlagen erst einmal auf den zu Tisch legen. Danach kann der nächste Schritt folgen, Belege zu sortieren usw. Kleine Schritte sind oft leichter machbar, als sich vorzustellen, jetzt „das große Ganze“ anzugehen müssen.
Ich habe es in der Schule übrigens nie, wirklich nie geschafft, dieses „du musst regelmäßig lernen, um dranzubleiben“-Ding durchzuziehen, auch wenn ich es mir so oft vorgenommen habe. Hat nie geklappt, war langweilig und der Bio-Stoff ließ sich auch in der Nacht vor der Abi-Prüfung super lernen, was immerhin zu einer 3 geführt hat! Öko-System See…
Und heute ertappe ich mich dabei, wie ich zu meiner Tochter sage, „hey, du musst regelmäßig lernen“, obwohl sie unter Druck zu Hochleistungen auffahren kann. (Andererseits aber auch unter dem gefühlten Druck leidet, der sich gerne einschleicht und zu dauerhafter Anspannung führt.)
Am wichtigsten hierbei ist eigentlich, ob du ein „Erfolgs-Prokrastinierer“ oder ein „Misserfolgs-Prokrastinierer“ bist. Im ersten Fall, nun ja, das mag sehr anstrengend für dich selbst sein, aber vielleicht hilft dir ein gewisser Druck auch sehr, um deine Fähigkeiten voll zu entfalten und super Leistungen zu erbringen. Im zweiten Fall, also wenn Prokrastination dazu führt, dass du nicht ins Handeln kommst oder nur ungenügende Leistungen zeigst, solltest du tatsächlich versuchen, etwas ändern.
To-Do-Listen können gut funktionieren, aber sie sollten spielerisch gestaltet sein. Manche ADHS-Betroffene profitieren davon, sich für erledigte Aufgaben kleine Belohnungen zu setzen oder Listen und anstehende Aufgaben wie eine Challenge zu betrachten.
Das hat mit tatsächlich immer gut geholfen, grade wenn sich die Aufgaben stapelten. Ich habe mir dann vorgestellt, in einem „Jump and Run“ zu sein und das nächste Level erreichen zu wollen. Das Ganze wie ein Spiel zu betrachten, hat es irgendwie leichter gemacht. Und diese Tragik, wenn dann noch eine Aufgabe hinzukommt und noch eine, konnte ich dadurch fast ironisch (und nicht mehr so angstvoll) betrachten.
Doch so wichtig Strategien auch sind, genauso entscheidend ist eine gesunde Selbstakzeptanz und realistische Einschätzung der eigenen Person. ADHS bringt Herausforderungen mit sich, aber auch besondere Stärken. Viele Menschen mit ADHS sind kreativ, spontan, begeisterungsfähig und können unter Druck unglaubliche Leistungen erbringen und stundenlang durchackern. Sich selbst ständig für Zeitblindheit zu kritisieren, macht es nur noch schwerer. Stattdessen geht es darum, mit den eigenen Besonderheiten zu arbeiten, nicht gegen sie.
Zeitmanagement mit ADHS bleibt eine Herausforderung und es wird nie perfekt sein. Aber mit den richtigen Strategien, etwas technischer Unterstützung und einer guten Portion Selbstakzeptanz kann der Alltag strukturierter und entspannter werden. Und wenn „fünf Minuten“ am Ende doch mal wieder eine ganze Stunde dauern? Dann ist das auch okay. Wir sind ja keine Maschinen, deren Programme perfekt getaktet ablaufen. Perfektion ist auch nicht das Ziel, denn kleine Verbesserungen machen den größten Unterschied. Denn auch wenn dein Gehirn Zeit anders verarbeitet, heißt das nicht, dass du nicht trotzdem deinen eigenen Weg finden kannst.
Vielleicht wäre ein Job ideal für dich, bei dem du nicht starr von 9 bis 17 Uhr arbeiten musst, sondern deine Wochenstunden flexibel einteilen kannst. An einem Tag voller Energie zwölf Stunden im Flow versinken und am nächsten entspannt nur fünf Stunden arbeiten?