Spät erkannter Autismus bei Erwachsenen: Wenn das Leben endlich Sinn ergibt
Manche Menschen wissen schon früh, dass sie autistisch sind. Andere stolpern jahrzehntelang durchs Leben, fühlen sich ständig fehl am Platz und fragen sich, warum alles für andere so viel leichter zu sein scheint. Und dann – zack – kommt plötzlich diese Diagnose. Auf einmal macht alles Sinn. Die ganzen Eigenheiten, die ewige Erschöpfung, das Gefühl, irgendwie „anders“ zu sein. Aber warum merken viele das erst so spät? Und was bedeutet das für ihr Leben?
Warum fällt Autismus manchmal erst im Erwachsenenalter auf?
Früher dachte man, Autismus wäre eine „Jungssache“. Die typischen Diagnosekriterien waren ziemlich einseitig: Probleme mit sozialer Interaktion, sich ständig wiederholende Verhaltensweisen, spezielle Interessen. Wer nicht ins Klischee passte, fiel durchs Raster – besonders Frauen und Menschen, die gelernt hatten, sich anzupassen.
Viele Autist:innen haben schon als Kinder unbewusst Strategien entwickelt, um nicht aufzufallen, sodass sie zum Teil selbst für die Eltern recht unauffällig wirkten. Sie beobachten, wie andere sich verhalten, und spielen das nach. Sie zwingen sich in soziale Situationen, auch wenn’s sie innerlich auslaugt. Sie verstecken ihre Besonderheiten, um „normal“ zu wirken. Das nennt man „Masking“. Und das Problem daran? Es kostet wahnsinnig viel Energie – und irgendwann geht’s einfach nicht mehr, man schafft es nicht mehr, die Schwierigkeiten zu kompensieren und wird vielleicht krank mit Depressionen oder Angststörungen. Viele Eltern machen sich übrigens später Vorwürfe, etwas bei ihrem Kind übersehen zu haben. Viele Eltern auch nicht, da sie selbst von Autismus betroffen sind und ihr Kind als „ganz normal“ angesehen haben. Und manche Eltern lehnen es schlichtweg ab, dass ihr Kind eine (unsichtbare) Behinderung haben könnte.
Obendrauf gibt’s dann oft noch falsche Diagnosen: ADHS, Depressionen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Sozialphobie, Generealisierte Angststörung, Panikstörung, PTBS, Zwangsstörung… Die Möglichkeiten sind vielfältig! Manchmal kommen Patient:innen mit einem „bunten Blumenstrauß“ an Diagnosen zu mir, die zum auch Teil passen und im Leben durchaus erworben wurden, aber längst nicht alles erklären. Der eigentliche Grund für all diese Probleme wurde nie erkannt, die unter dem Oberbegriff ‚Autismus‘ so viel Sinn ergeben! Meltdowns wurden mit Panikattacken verwechselt, obwohl keine Todesangst oder starke Angst, sich zu blamieren, ausgemacht werden konnte, welche Leitsymptome der Panikstörung oder der Sozialphobie darstellen. Selbstverletzungen zählten zur Symptomatik der Borderline-Persönlichkeitsstörung, auch wenn weitere Kriterien wie instabile Beziehungen, eine starke Angst vor dem Alleinsein oder manipulatives Verhalten nicht verzeichnet werden konnten. Soziale Ängste wurden schlicht der Sozialphobie zugeteilt, auch wenn diese schon immer vorlagen und kein einzelner traumatischer Auslöser für sie ausgemacht werden konnte. Die Diagnose einer PTBS wurde vergeben, selbst wenn die Hauptkriterien, Flashbacks und Intrusionen, nicht beobachtet werden konnten. Vieles passt oft so ein bisschen, doch nichts wirklich umfassend.
Wie fühlt es sich an, plötzlich zu wissen, dass man autistisch ist?
Für die meisten ist es eine riesige Erleichterung und geahnt haben sie es ja oft schon lange. Endlich eine Erklärung dafür, warum alles immer so furchtbar anstrengend war. Endlich die Gewissheit, dass man nicht einfach „zu empfindlich“ oder „falsch“ ist.
„Jetzt ergibt alles Sinn.“ Plötzlich versteht man, warum soziale Situationen so kräftezehrend sind. Warum Smalltalk sich anfühlt wie eine lästige Pflicht. Warum Menschenmengen, grelles Licht oder laute Geräusche einfach zu viel sind.
„Warum hat mir das niemand früher gesagt?“ Neben der Erleichterung kommt oft Wut oder Trauer. Wie viele Jahre hat man sich völlig umsonst gequält? Wie oft hat man sich gefragt, was mit einem „nicht stimmt“?
„Und jetzt? Was mache ich mit dieser Info?“ Manche erzählen es sofort ihrem Umfeld, andere brauchen Zeit, um das Ganze erstmal für sich zu sortieren. Beides ist völlig okay. Zweifel an der Diagnose bestehen bei den meisten autistischen Menschen übrigens selbst nach der Diagnose. Sie fragen sich, ob sie sich richtig dargestellt oder vielleicht übertrieben und ein falsches Bild von sich abgegeben haben – das spricht absolut für Autismus und nicht dagegen!
Und was kommt nach der Diagnose?
Nur weil man endlich eine Antwort hat, heißt das leider nicht, dass plötzlich alles leicht wird. Der Alltag bleibt herausfordernd – besonders, wenn man sein Leben lang gelernt hat, sich anzupassen.
Masking führt zu totaler Erschöpfung.
Viele Autist:innen haben jahrelang ihre eigene Persönlichkeit versteckt, ohne es richtig zu merken. Immer nett sein, immer mitlachen, immer „funktionieren“. Aber irgendwann ist die Luft raus. Die Diagnose kann helfen, sich das einzugestehen – aber der Weg raus aus diesem ständigen Tarnmodus ist nicht leicht und erfordert viel Arbeit. Vor dem Entschluss, Masking zu reduzieren, sollte zunächst für eine Weile eine intensive Selbstbeobachtung einsetzen. Einer der wichtigsten Schritte überhaupt ist es, herauszufinden, in wie vielen Situationen Masking eingesetzt wird und dies unmittelbar in der Situation auch zu bemerken. Nur so kann es langfristig langsam abgebaut werden. Man sollte sich der Frage stellen, ob es wirklich so wichtig ist, dass man von allen anderen Menschen als unauffällig, angepasst und freundlich empfunden wird. (Dies sicherzustellen dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein, man kann es gleichzeitig nie allen Menschen recht machen, ohne dabei selbst „vor die Hunde zu gehen“.)
Soziale Herausforderungen führen zu Problemen.
Viele haben sich schon ihr ganzes Leben gefragt, warum sie sich in Gruppen oft fehl am Platz fühlen. Warum sie nach einem Treffen völlig ausgelaugt sind, während andere aufblühen. Die Diagnose kann helfen, das zu verstehen – aber sie kann auch dazu führen, dass man sein Umfeld hinterfragt. Wer tut mir eigentlich wirklich gut? Und wo passe ich vielleicht einfach nicht rein? Will ich überhaupt überall hineinpassen?
Schwierigkeiten im Job und der Karriere.
Autismus kann im Beruf sowohl ein riesiger Vorteil als auch eine echte Herausforderung sein. Viele Autist:innen sind extrem detailverliebt, analytisch und hochkonzentriert, wenn sie für etwas brennen. Aber Bürokratie, soziale Erwartungen und unvorhersehbare Veränderungen? Die können die Hölle sein. Manche überlegen nach der Diagnose, ob sie sich beruflich neu orientieren oder zumindest versuchen, ihre Arbeitsumgebung an ihre Bedürfnisse anzupassen.
Wie geht’s jetzt weiter? Viele autistische Menschen fühlen sich wohl in Beschäftigungen, die im Homeoffice ausgeführt werden können. Bei vielen Tätigkeiten ist dies jedoch nicht möglich. Hier sollte versucht werden, eine reizarme Arbeitsumgebung zu schaffen mit vorhersehbaren sozialen Interaktionen. Viele leiden sehr unter spontanem und wechselndem Kundenkontakt, der einfach nicht vorhersehbar ist oder unter organisatorischen, sensuellen und sozialen Überforderungen, die ein Studium mit sich bringen kann, das vielleicht als Fernstudium leichter zu bewältigen ist.
Die Diagnose ist nicht das Ende der Reise – sie ist eher der Anfang von etwas Neuem. Es geht darum, sich selbst kennenzulernen und herauszufinden, was man eigentlich braucht, um glücklich zu sein:
Sich selbst akzeptieren.
Klingt einfach, ist aber ein riesiger Prozess. Jahrelang hat man sich irgendwie „falsch“ gefühlt – das einfach so abzulegen und sich nicht noch ein bisschen mehr und noch ein bisschen mehr anzustrengen, dauert.
Gleichgesinnte finden.
Der Austausch mit anderen Autist:innen kann unglaublich guttun. Endlich mal nicht erklären müssen, warum Partys anstrengend sind. Endlich verstanden werden. Für viele kann eine Selbsthilfegruppe hilfreich sein. Einerseits um Kontakte mit anderen Autist:innen zu knüpfen, andererseits auch, um sich weniger alleine zu fühlen. Nicht selten wird mit berichtet, dass Betroffene bewusst niemand anderen mit Autismus kennen.
Eigene Bedürfnisse ernst nehmen.
Wer sein Leben lang gelernt hat, sich anzupassen, vergisst oft, was er selbst eigentlich will. Die Diagnose kann eine Chance sein, neue Grenzen zu setzen – sei es im sozialen Leben, im Job oder im Alltag. Es ist sehr wichtig, wieder unterscheiden zu lernen, was die eigenen Bedürfnisse sind und was nur aufgrund gesellschaftlichen Druckes getan wird.
Die eigenen Stärken nutzen.
Autismus bringt nicht nur Herausforderungen, sondern auch Talente. Viele haben ein außergewöhnliches Gespür für Details, ein starkes Gerechtigkeitsgefühl oder eine unglaubliche Fähigkeit, sich in Spezialthemen zu vertiefen. Das bewusst in einem angemessenen Rahmen zu nutzen, kann richtig guttun.
Eine späte Autismus-Diagnose erst als Erwachsene:r ist kein Ende – sie ist ein Neustart. Klar, erstmal gibt’s viel zu verarbeiten. Wut, Trauer, Unsicherheit – das gehört alles dazu. Aber am Ende steht eine Erkenntnis, die unbezahlbar ist: Ich bin nicht falsch. Ich bin einfach ich.