Ursachen, Auswirkungen und Gefahren von Masking bzw. Camouflaging bei Autismus
Masking, oft auch als Camouflaging bezeichnet, beschreibt die bewusste oder unbewusste Anpassung autistischer Menschen an soziale Normen, um nicht als „anders“ oder „komisch“ aufzufallen. Es umfasst verschiedene Strategien, um neurotypische Verhaltensweisen nachzuahmen und angepasst zu erscheinen, auf die ich folgend näher eingehen möchte.
Das Nachahmen neurotypischer Mimik und Gestik: Autistische Menschen beobachten andere Menschen oft und versuchen, deren Gesichtsausdrücke, Körpersprache und Tonfall zu übernehmen, um sozial kompetenter zu wirken. Häufig wird Verhalten auch ganz gezielt aus Filmen oder Serien abgeschaut und erlernt. Oft wird mir berichtet, dass in sozialen Situationen ein permanentes inneres Self-Monitoring mit Anpassungen stattfindet. Es kann wohl jeder nachvollziehen, dass dies unglaublich vom Gesprächsinhalt ablenken kann, von zusätzlichen sensorischen Faktoren mal ganz abgesehen.
Unterdrückung von Stimming-Verhalten: Z. B. wird vermieden, mit dem Fuß zu wippen oder mit den Fingern zu trommeln, da andere Menschen dadurch nervös werden könnten (und öfter auch schon ihren Unmut äußerten). Auch das Schaukeln mit dem Oberkörper oder das wiederholte Berühren von Gegenständen wird unterdrückt, um nicht aufzufallen. Dabei wäre es wichtig, diese Stimmings durchzuführen, da sie dazu dienen, Stress abzubauen und sich selbst zu regulieren. Viele autistische Menschen unterdrücken dieses Verhalten, um nicht negativ aufzufallen oder entwickeln kaum sichtbare Stimmings, beißen sich bspw. auf die Innenseite der Wange, spielen mit einem Stift oder streichen dezent mit den Händen über die Oberschenkel. Auffällige Stimmings legen viele Autist:innen bereits ganz früh ab oder führen sie nur noch durch, wenn sie alleine sind. Schon als Kinder hören sie von vielen Seiten, „lass das, das sieht komisch aus“.
Das bewusste Erlernen sozialer Skripte: Da soziale Interaktionen für autistische Menschen oft herausfordernd sind, merken sie sich vorgefertigte Antworten und Gesprächsabläufe, um reibungslose Kommunikation zu ermöglichen. Schwierig wird dies natürlich, wenn das Gespräch nicht wie vorgestellt abläuft, bspw. die Kassiererin ein Kompliment für eine schöne Jacke macht. Es mag wie eine Kleinigkeit klingen, kann jedoch zu großem Unbehagen und auch zu Überforderung führen, da der Bezahlvorgang anders als erwartet abläuft. Grade nach anstrengenden Tagen kann es sehr kritisch werden, wenn Dinge unvorhergesehen ablaufen. Es muss zudem ein kognitiv unglaublich aufwendiger Prozess sein, sich für jegliche soziale Situationen Verhaltensskripte zuzulegen und in aktuellen Situationen schnell das passende Skript herauszufinden und anzuwenden.
Verbergen sensorischer Überlastung: Laute Geräusche, grelles Licht, intensive Gerüche oder Berührungen können für autistische Menschen belastend sein. Viele versuchen, ihre sensorische Überforderung zu verbergen, um nicht als empfindlich zu gelten. Das ist natürlich ein Lerneffekt. Wenn man wiederholt darum bittet, ein bestimmtes Geräusch zu entfernen, z. B. ein Ladegerät, weil das Summen stört und andere Menschen dies nicht bemerken, gilt man schnell als „Sensibelchen“, „du nun wieder, reiß dich mal zusammen“. Natürlich unterlässt man diese Bitten dann und erträgt die Reize, falls ein Weggehen aus der Situation nicht möglich ist. Auch möchte niemand unangenehm auffallen, wenn man z. B. mit Freunden einen Club besucht, was ein sensorisches Inferno für viele Sinne darstellt (mal ganz abgesehen von der Frage „was muss ich denn eigentlich machen in so einem Club“).
Die Gründe, warum überhaupt maskiert wird, sind vielfältig. Ein wichtiger Grund für Masking ist die soziale Akzeptanz. Viele autistische Menschen erleben oft Ablehnung oder Unverständnis, wenn sie sich ganz authentisch verhalten. Sie lernen schnell, dass Masking dazu beitragen kann, sozial besser integriert zu werden.
Wichtig wird es auch, um Mobbing und Diskriminierung zu vermeiden, was viele Betroffene in ihrer Kindheit und teilweise auch noch im Erwachsenenalter erleben. Häufig werden negative Erfahrungen mit Ausgrenzung oder Diskriminierung gemacht. Durch das Anpassen an neurotypische Normen versuchen Betroffene, sich vor negativen Konsequenzen zu schützen. Diese Strategie ist in der Kindheit durchaus sinnvoll gewesen (Kinder können ziemlich gemein sein), zählt im Erwachsenenalter jedoch eher zu den maladaptiven, dysfunktionalen Strategien, da sie unheimlich viele mentale Ressourcen bündelt. Der Druck durch gesellschaftliche Erwartungen ist also sehr hoch. Gesellschaftliche Normen und Erwartungen verlangen oft eine bestimmte Art der Kommunikation und des sozialen Verhaltens. Autistische Menschen spüren diesen Druck besonders stark und versuchen, sich entsprechend anzupassen. Zudem gibt es viele Erwartungen in Schule und Beruf, wie Menschen sich zu verhalten haben und wie sie interagieren sollen. Man denke an die vielen impliziten sozialen Regeln, die ganz bewusst erworben werden müssen und vielen neurotypischen Personen nur so „zuzufliegen“ scheinen. Autistische Menschen maskieren sich oft, um beruflich erfolgreich zu sein oder schulische Anforderungen zu erfüllen.
Obwohl Masking natürlich kurzfristig Vorteile bringen kann, hat es langfristig oft schwerwiegende negative Auswirkungen für die betroffene Person. An erster Stelle ist hier die mentale und auch physische Erschöpfung zu nennen. Masking erfordert eine enorme geistige Anstrengung, da autistische Menschen kontinuierlich ihr Verhalten überwachen und anpassen müssen. Dies führt häufig zu sozialer Erschöpfung, die auch als „Autistic Burnout“ bekannt ist. Die ständige Selbstkontrolle kann zu Schlafstörungen, chronischer Müdigkeit, erhöhter Reizbarkeit und depressiven Verstimmungen führen. Und die normale Zeit zur Regeneration an den Wochenenden reicht häufig nicht mehr aus. Eine chronische Überforderung führt auch bei neurotypischen Menschen zu einer Erschöpfungsdepression (Burnout), autistische Menschen sind wegen höherer Belastungen jedoch weitaus gefährdeter als nicht-autistische Menschen. Im Gegensatz zur Erschöpfungsdepression bei neurotypischen Menschen höre ich von Betroffenen eines Autistic Burnouts jedoch oft, dass die längerfristige Ruhe und der Rückzug sehr, sehr wohltuend sind, während viele nicht-autistische, arbeitsunfähige Menschen weiterhin angespannt und erschöpft bleiben, den Rückzug oft nicht als positiv bewerten und ganz schnell wieder funktionieren wollen (klappt nicht).
Ein weiterer Punkt, der gegen die langfristige Nutzung von Masking-Strategien spricht, ist, dass viele Betroffene den Zugang zu ihrem authentischen Selbst, ihrer Identität, verlieren. Sie sind sich oft nicht mehr sicher, wer sie wirklich sind, weil sie sich so lange anpassen mussten. Dies kann zu Identitätskonflikten und einem verringerten Selbstwertgefühl führen. Manchmal berichten Betroffene mir, dass sie das Gefühl haben, andere permanent anzulügen, was dem Bedürfnis nach Ehrlichkeit natürlich entgegensteht. Sie können kaum mehr zwischen eigenen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Erwartungen unterscheiden, da beides eng miteinander verwoben ist. Wegen des Gefühls, permanent eine Rolle zu spielen, befürchten viele Betroffene selbst nach Erhalt der Autismus-Diagnose nicht autistisch zu sein, da sie sich sorgen, sich falsch dargestellt oder übertrieben zu haben. Häufig spitzt sich das bis zur Entwicklung eines Impostor-Syndroms hin. Dieser Punkt, diese Sorge, sich nicht authentisch dargestellt zu haben, ist sogar äußerst Autismus-typisch, spricht absolut für und nicht gegen eine Diagnose! So ziemlich jede:r berichtet mir in der Diagnostik übrigens, nicht mal vor dem Partner oder der Partnerin völlig authentisch sein zu können und Masking anzuwenden. Dies wird ganz häufig auch in Fragebögen ersichtlich, wenn die Selbst- und Fremdauskunft des gleichen Fragebogens sehr weit auseinanderliegen. In der Fremdauskunft werden oft bspw. die emotionalen Kompetenzen des oder der Betroffenen, wie das Erkennen, Regulieren und der Ausdruck eigener Gefühle oder das Erkennen der Gefühle anderer Menschen, völlig unauffällig und gut ausgeprägt eingeschätzt, während die Selbstauskunft große Defizite aufweist. Selbst im Elternfragebogen werden rückblickend oft keine hinreichenden Auffälligkeiten für Verhaltensweisen im Alter von vier bis fünf Jahren genannt, was unter anderem daran liegt, dass ganz früh verstanden wurde, wie man sich sozial verhalten sollte, damit man von den Eltern liebgehabt wird und keine Ausgrenzung durch andere Kinder geschieht.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der gegen die Nutzung von Masking spricht, liegt im erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen wie bspw. Angststörungen, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen. Diese ständige Angst, entdeckt zu werden oder nicht gut genug zu sein, führt oft zu chronischem Stress und der Herausbildung komorbider Störungsbilder. Grade Depressionen, soziale Ängste und Symptome einer Boderline-Störung (nicht das Vollbild!) kommen häufig neben Autismus vor. Oft wurde auch bereits eine generalisierte Angststörung (GAS) diagnostiziert, was nachvollziehbar ist, da autistische Menschen eigentlich dauernd in ihrem Kopf (alleine auch laut) mit sich selbst ins Gespräch gehen. Soziale Situationen werden reflektiert, wichtige Gespräche im Vorfeld geübt und immer schwingt die Angst mit, sich nicht angemessen verhalten und einen Fehler gemacht zu haben. Es liegen häufig permanente Sorgen vor, die ein Leitkriterium der GAS sind.
Obwohl Masking kurzfristig dabei helfen kann, soziale Interaktionen zu erleichtern, kann es langfristig soziale Beziehungen erschweren. Viele autistische Menschen fühlen sich in sozialen Situationen nicht authentisch und erleben emotionale Distanz zu anderen Menschen. Zudem kann Masking dazu führen, dass andere ihre wahren Bedürfnisse nicht erkennen und daher keine passende Unterstützung anbieten. Besonders bei Frauen und nicht-binären Personen wird Autismus oft spät oder gar nicht diagnostiziert, da sie über Jahre hinweg erfolgreich maskiert haben. Dies kann dazu führen, dass sie erst spät oder gar nicht die benötigte Unterstützung erhalten. Oft liegt ein „bunter Strauß“ an Diagnosen vor und verschiedene Therapien wurden bereits absolviert, ohne dass es langfristig zu einer umfassenden Besserung der Symptomatik kam. Das ist ein bisschen wie am Ziel vorbei zu therapieren.
Vor einer Änderung der Masking-Strategien sollten Ihnen diese zunächst einmal bewusstwerden. Das klingt vielleicht selbstverständlich, ist es oft aber nicht, da Masking zu großen Teilen zu einem Automatismus geworden ist und man weniger bewusste Zeit darauf verwendet, Masking auszuführen. Sie können sich ja einen Tag lang einmal selbst beobachten, nur mit dem Ziel, Maskingstrategien zu erkennen, nicht, sie zu ändern. Sie werden sicher überrascht sein, in wie vielen, oft auch ganz nebensächlichen Situationen, an die Sie jetzt noch gar nicht denken, Sie Masking anwenden. Und erst, wenn Sie richtig gut darin geworden sind, Masking sicher zu erkennen, sollten Sie dazu übergehen, dies Schritt für Schritt zu ändern, wenn das Ihr Ziel ist. Ich empfehle aber, hier liebevoll und wertschätzend mit sich selbst umzugehen. Überfordern Sie sich nicht, in dem Sie alles auf einmal ändern wollen. Nehmen Sie sich gezielte Situationen vor und finden heraus, wie genau Sie selbst eigentlich wären, was Sie machen würden, wenn Sie Ihren eigenen Bedürfnissen etwas mehr nachgehen würden.
Langfristig können Sie so zu mehr Selbstakzeptanz und Ihrer wahren Identität gelangen. Sich selbst besser kennenzulernen und die eigene Neurodivergenz zu akzeptieren, kann helfen, sich besser in der eigenen Haut zu fühlen. Schaffen Sie sich ein Umfeld, in dem Sie sich wohlfühlen. In einer Umgebung, in der man sich sicher fühlt, kann es einfacher sein, sich authentisch zu zeigen. Dies kann durch unterstützende Freundschaften, Familienmitglieder oder auch Selbsthilfegruppen geschehen. Sprechen Sie offen über Autismus mit Ihren Bezugspersonen und klären über die Herausforderungen von Masking auf und warum Sie versuchen, es zu reduzieren. Es kann dazu beitragen, mehr Verständnis und Akzeptanz bei Ihrem Umfeld zu schaffen. Machen Sie sich zudem bewusst, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, es jedem Menschen rechtzumachen. Das schaffen Sie nicht! Und es ist auch gar nicht nötig. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie es wäre, wenn jede:r Sie lieben würde und etwas mit Ihnen unternehmen möchte, das wäre der reinste Sozialstress! 😉 Trauen Sie sich zu sagen, „du, du und du seid mir egal, ihr könnt mich finden, wie ihr wollt, das kümmert mich nicht“. Ein, zwei enge und sichere Freundschaften sind viel mehr wert als zehn oberflächliche.
Überlegen Sie auch, ob Sie lieber oder ergänzend mit therapeutischer Unterstützung an sich selbst arbeiten möchten. Ich denke, es ist gar nicht so wichtig, dass ein:e Therapeut:in zwingend groß Ahnung von Autismus hat, solange er oder sie Ihnen zuhört. Wenn Sie mitteilen, welche Strategien Sie gerne ablegen oder verändern möchten, so kann jede:r Therapeut:in damit umgehen und Sie in dem Ziel unterstützen. Erarbeiten Sie zusammen mit der therapeutischen Fachkraft gesündere Verhaltensweisen und wertschätzende Gedanken über sich selbst. Gehen Sie allgemein weniger streng mit sich selbst um. Wenn Sie in einer herausfordernden Situation sind, überlegen Sie doch einmal, was Sie einem Freund oder einer Freundin raten würden und wenden dies bei sich selbst an.
Da Masking zu großer Erschöpfung führt, ist es wichtig, regelmäßig Pausen bei dem, was Sie tun, einzulegen und sich mit Dingen zu beschäftigen, die Ihnen guttun. Falls Sie oft vergessen, neben Pflichten auch regelmäßige Pausen einzuplanen, versuchen Sie doch einmal, sich einen Wochenplan, ähnlich einem Stundenplan, zu erstellen, in dem Sie Ihre Pflichten und Pausen stündlich bzw. in Blöcken vermerken. Fangen Sie mit kurzen Pausenzeiten an, wenn Sie einen vollen Terminkalender haben und bauen diese Stück für Stück aus. Versuchen Sie, nicht nur bei besonderen Ereignissen wie einem großen Familienfest im Anschluss Pausen einzuplanen, sondern auch nach ganz alltäglichen Stresssituationen wie dem Einkaufen oder dem Besuch der Uni. Seien Sie sich es wert, auf sich selbst aufzupassen. Wenn nicht Sie, wer dann? Und wieso sollten die Bedürfnisse anderer Menschen wichtiger als Ihre eigenen sein? Es ist sehr wichtig, Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen und Wege zu finden, wie autistische Menschen sich in einer inklusiven Gesellschaft authentisch zeigen können, ohne sich ständig anpassen zu müssen.
Und eine Buchempfehlung habe ich, die ich Ihnen unbedingt mitteilen muss! Schauen Sie doch einmal, ob das Buch ‚Unmasking Autism‘ von Dr. Devin Price etwas für Sie sein könnte. Devin Price geht einerseits weit über das Klischee des westlich sozialisierten autistischen Jungen hinaus und zeigt andererseits praktische Übungen, wie Sie sich Ihrem Masking bzw. dem De-Masking stellen können. Es ist kein Fachbuch, es hat viele interessante autobiographische Inhalte verschiedenster Personen, aber auch die Übungen zum Masking sind wirklich toll. Wie eine Selbsttherapie in Buchform, wohl dosiert und logisch aufbauend. Mittlerweile gibt es das Buch erfreulicherweise auch in deutscher Sprache. Das geschriebene Englisch ist aber auch sehr gut verständlich und keinesfalls gestelzt.