Musiktherapie bei Autismus: Wenn Klänge mehr sagen als Worte
Es war kein großer Medienrummel. Kein dramatischer Bühnenauftritt mit Konfettiregen. Und doch hat eine leise Nachricht weltweit viele Menschen berührt. Min Yoongi, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Suga, hat bekannt gegeben, dass er rund 3,6 Millionen US-Dollar für ein neues Behandlungszentrum für autistische Menschen spendet. Das Zentrum entsteht in Zusammenarbeit mit dem Severance Hospital in Seoul und trägt den Namen Min Yoongi Treatment Centre. Im Mittelpunkt steht dabei ein innovatives Therapieprogramm namens MIND, das für Music, Interaction, Network und Diversity steht. Dieses Zentrum soll einen neuen Zugang zur therapeutischen Begleitung autistischer Menschen schaffen, bei dem Musik im Mittelpunkt steht.
Suga ist nicht nur Musiker, sondern auch ein engagierter Künstler mit großer internationaler Reichweite. Vielen ist er als Mitglied der südkoreanischen Popgruppe BTS bekannt. Die Abkürzung BTS steht ursprünglich für Bangtan Sonyeondan, was sich grob mit kugelsichere Pfadfinder übersetzen lässt, wird aber im internationalen Raum auch als Beyond The Scene interpretiert. Die Gruppe besteht aus sieben Mitgliedern und ist weltweit bekannt für ihre tiefgründigen Songtexte, spektakulären Performances und ihren offenen Umgang mit Themen wie psychischer Gesundheit, gesellschaftlichem Druck und Selbstwert. Besonders Suga fällt immer wieder dadurch auf, dass er über persönliche Themen wie Angst, Depression und emotionale Belastungen spricht. Für viele junge Menschen weltweit ist er damit eine wichtige Stimme für Offenheit und Enttabuisierung geworden.
Dass ausgerechnet er ein Zentrum für autistische Menschen mitfinanziert, ist kein Zufall. Denn Musik spielt für viele autistische Menschen eine besondere Rolle. Wer mit Autistinnen und Autisten zu tun hat, weiß, wie häufig Sprache zur Hürde wird. Nicht nur, weil die Wörter manchmal fehlen, sondern weil das Denken und Fühlen oft auf eine ganz andere Weise funktioniert. Musik kann genau da ansetzen, wo Worte scheitern. Sie umgeht die kognitive Ebene, spricht direkt mit dem Körper, mit dem Rhythmus und mit der inneren Welt.
Es gibt Kinder, die kaum sprechen, aber Melodien präzise nachsingen können. Jugendliche, die in Gesprächen verschlossen bleiben, aber beim gemeinsamen Musizieren plötzlich Kontakt aufnehmen. Erwachsene, die sich sonst zurückziehen, aber durch Musik Zugang zu sich selbst finden. Und es gibt Studien, die zeigen, dass Musiktherapie genau diese Prozesse unterstützen kann. Sie fördert nicht nur soziale Interaktion und Emotionsregulation, sondern bietet auch eine Form der Selbstwirksamkeit, die viele klassische Therapieformen nicht erreichen.
Gerade in der Arbeit mit autistischen Menschen zeigt sich immer wieder, dass alternative Ausdrucksformen oft wirksamer sind als rein sprachbasierte. Denn Musik verlangt keinen Blickkontakt, keine perfekten Formulierungen und keine soziale Lesbarkeit. Sie fordert nichts, sondern bietet vielmehr. Und das ist für viele eine seltene Erfahrung.
Das MIND-Programm, das am neuen Zentrum angeboten werden soll, geht genau in diese Richtung. Es stellt nicht die Anpassung an gesellschaftliche Normen in den Vordergrund, sondern eröffnet Räume für selbstbestimmte Kommunikation. Dabei geht es nicht nur um Musik als Freizeitbeschäftigung, sondern um Musik als therapeutisches Medium. Als Brücke zwischen Reizverarbeitung und Gefühlsausdruck, als Werkzeug zur Selbstregulation, als Form von Begegnung ohne Druck.
Dass ein weltbekannter Künstler wie Suga dieses Projekt initiiert, ist mehr als ein symbolischer Akt. Es zeigt, dass neurodiverse Lebensrealitäten zunehmend in den gesellschaftlichen Fokus rücken. Dass es nicht nur darum geht, über Autismus zu sprechen, sondern Strukturen zu schaffen, die wirklich helfen. Strukturen, die Vielfalt nicht als Problem, sondern als Ausgangspunkt begreifen.
Viele Menschen im Autismus-Spektrum beschreiben rückblickend, dass Musik für sie immer eine Art sicherer Hafen war. Etwas, das nicht bewertet, nicht überfordert und nicht verletzt. Etwas, das einfach da ist. In einer Welt, die oft zu laut, zu chaotisch und zu normativ ist, kann Musik ein Ort sein, an dem man sein darf, wie man ist.
Natürlich wird das neue Zentrum in Seoul nicht alle Probleme lösen. Es wird keine Schulängste verschwinden lassen, keine Reizüberflutung in Supermärkten verhindern und auch keine gesellschaftlichen Barrieren mit einem Fingerschnippen abbauen. Aber es bietet einen Ansatz, der nicht versucht, Menschen zu ändern, sondern ihnen zuzuhören.
In der therapeutischen Landschaft ist das nach wie vor eine Seltenheit. Noch immer dominieren Programme, die auf Verhaltenstraining, Anpassung und Korrektur abzielen. Dabei ist längst bekannt, dass nachhaltige Unterstützung nur dann gelingt, wenn sie an der Lebensrealität der Betroffenen ansetzt. Musik kann hier ein wertvoller Zugang sein. Nicht als Allheilmittel, aber als ehrliches und unterstützendes Angebot.
Vielleicht ist das Zentrum von Min Yoongi nur ein erster Schritt. Vielleicht folgen andere. Möglicherweise wird Musiktherapie irgendwann selbstverständlich in der Begleitung von Autistinnen und Autisten eingesetzt. Nicht als Luxus, sondern als ernstzunehmende Methode. Vielleicht hilft es ja, sich öfter klarzumachen, dass Kommunikation nicht immer über Sprache laufen muss. Und dass Musik manchmal einfacher zugänglich ist als lange Erklärungen.
Und ganz unter uns – ich erwähne an dieser Stelle gern wieder Avicii. 😉 Wer je seine Musik gehört und gespürt hat, was darin an innerer Komplexität, emotionalem Druck und nonverbaler Klarheit steckt, der weiß vielleicht, dass Musik manchmal der einzige Kanal ist, der offenbleibt, wenn alles andere zu viel ist. Es hätte ihm vermutlich gefallen, dass jemand wie Suga sich für Menschen einsetzt, deren Nervensystem anders funktioniert, und dass er das mit Musik tut.
Manches ist einfach schöner im 4/4-Takt.