Impulskontrollstörungen bei ADHS und Autismus: Mehr als nur schlechte Angewohnheiten

Impulskontrollstörungen bei ADHS und Autismus: Mehr als nur schlechte Angewohnheiten

Wenn Selbstregulation unter die Haut geht: Impulskontrollstörungen bei ADHS und Autismus

Es gibt Dinge, die macht man nicht, wenn jemand zuschaut. An der Nagelhaut zupfen, bis es blutet oder die Fingernägel herunterkauen. Kleine Schorfstellen immer wieder aufkratzen. Haare um den Finger wickeln und dann ziehen bis sie sich lösen. Oder stundenlang die Gesichtshaut abtasten auf der Suche nach etwas, das nicht glatt ist. Skin Picking nennt man das, oder Trichotillomanie, wenn die Haare ausgerissen werden. Oder einfach nur sich selbst nicht in Ruhe lassen können.

In vielen Köpfen gibt es dazu das Bild von jungen Frauen mit perfektem Lidstrich, die im Bad vor dem Spiegel stehen und an ihrer Haut herumnesteln. Was dabei völlig untergeht ist, wie häufig solche Impulskontrollstörungen bei Menschen mit Autismus und ADHS vorkommen. Und dass es dabei nicht um Eitelkeit geht. Auch nicht um Selbsthass. Sondern um Regulation. Um ein inneres Chaos, das über die Haut, Haare oder Nägel nach draußen will.

Es ist ein bisschen wie bei einem überfüllten E-Mail-Postfach. Zu viele Reize, zu viele Gedanken und zu viele Gefühle. Alles will gleichzeitig sortiert werden. Aber es gibt keinen Ordner mit System. Also wird gekratzt, gezupft, gedrückt oder gerissen. Nicht weil es Spaß macht, sondern weil es kurz etwas entlastet. Weil es ein Gefühl von Kontrolle zurückgibt und zum Stressabbau beiträgt.

Bei ADHS kommt das besonders häufig vor. Viele Betroffene berichten davon, dass sie gar nicht genau wissen, wann sie angefangen haben. Sie merken nur, dass es in bestimmten Situationen immer schlimmer wird. Wenn sie warten müssen, wenn sie überfordert sind, wenn zu viel auf sie einprasselt. Oder wenn nichts passiert und sie sich selbst irgendwie spüren müssen.

Bei Autismus sieht es ganz ähnlich aus. Dort ist die Schwelle oft niedriger. Manchmal reicht schon eine neue Umgebung, ein anderer Geruch oder ein unerwarteter Geräuschpegel. Das Nervensystem fährt hoch, die Emotionsregulation fällt schwer. Und irgendwo muss diese Spannung ja hin.

Viele entwickeln dann Rituale. Wiederholte Bewegungen wie reiben, drehen oder kneten. Manchmal eher im Sinne von Stimming. Aber manchmal kippt es und wird exzessiv, man beginnt, die Haut zu beschädigen. Und dann spricht man von Impulskontrollstörungen. Auch wenn das Wort selbst viel zu brav klingt für das, was da eigentlich passiert.

Was viele nicht sehen ist, dass das nicht einfach „schlechte Angewohnheiten“ sind. Es ist nicht dasselbe wie Nägelkauen vor einem Vorstellungsgespräch. Es sind oft stundenlange Episoden, bei denen alles andere ausgeblendet wird. Und selbst, wenn es schmerzt oder blutet, hört man nicht auf. Oder man hört auf und macht es am nächsten Tag wieder. Nicht aus Schwäche, sondern weil es das Einzige ist, was in dem Moment irgendwie geht.

In der Forschung gibt es erste Hinweise darauf, dass solche Impulskontrollstörungen viel häufiger mit ADHS und Autismus zusammen auftreten als früher angenommen (was ich aus der Praxis auf jeden Fall bestätigen kann). Besonders bei Menschen, die zusätzlich unter Angst oder Zwangssymptomen leiden, scheint die Wahrscheinlichkeit noch einmal höher zu sein. Die Übergänge sind fließend. Manche knibbeln nur in Stressphasen. Andere sprechen von einer inneren Unruhe, die sie seit der Kindheit begleitet. Wieder andere erinnern sich an keine Zeit ohne diese Handlungen.

Oft fängt es harmlos an. Ein kleines Knibbeln an der Nagelhaut. Eine Hautunreinheit, die man weghaben will. Ein Haar, das nicht so liegt, wie es soll. Aber dann wird es ritualisiert und zu einem inneren Drang. Und irgendwann merkt man, dass man es nicht mehr im Griff hat.

Für viele ist das mit Scham verbunden. Sie verstecken ihre Hände, ihre Narben, ihre kahlen Stellen. Gehen nicht mehr ins Schwimmbad, tragen lange Ärmel, erfinden Erklärungen, wenn jemand fragt. Und versuchen es immer wieder zu stoppen. Mit Willenskraft, mit Pflastern, mit Handcremes und vielen Vorsätzen. Aber meistens kommt es zurück.

Denn das Problem liegt nicht im Verhalten selbst. Sondern in dem, was darunter liegt. In der Unfähigkeit, sich anders zu regulieren. In der Reizempfindlichkeit. In dem Bedürfnis, Kontrolle über das eigene Erleben zu gewinnen, wenn außen alles zu viel wird und innen nichts sortiert ist.

Gerade im autistischen Spektrum sind viele Menschen sehr empfindsam. Sie spüren alles. Geräusche, Kleidung, Bewegungen und Stimmungen. Und gleichzeitig fehlt oft das intuitive Wissen, was jetzt helfen könnte. Viele Strategien, die anderen zur Verfügung stehen, stehen ihnen nicht zur Verfügung. Sie greifen dann auf das zurück, was immer funktioniert hat. Auch wenn es schädlich ist.

Bei ADHS kommt noch die Reizsuche hinzu. Das Bedürfnis nach Stimulation. Nach einem Reiz, der stark genug ist, um das diffuse Gefühl von innerer Leere, Überforderung oder emotionalem Chaos zu unterbrechen. Viele kauen an der Innenseite der Wange oder kauen auf der Lippe. Andere schneiden sich die Nagelhaut bis sie blutet. Oder kratzen alte Krusten auf, einfach um etwas zu spüren.

Therapeutisch wird das lange nicht ernst genommen. Viele stoßen auf Sätze wie „Das ist doch nur eine schlechte Angewohnheit“ oder „Sie müssen sich einfach mehr zusammenreißen“. Dabei wissen die meisten Betroffenen selbst, dass sie sich damit schaden. Aber Wissen verändert eben nicht das Nervensystem.

Was helfen kann ist ein Verständnis dafür, wann und warum diese Handlungen auftreten. Gibt es Auslöser? Bestimmte Situationen oder Tageszeiten? Gibt es Gefühle, die vorher da sind? Gibt es vielleicht Alternativen, die zwar nicht dasselbe befriedigen, aber wenigstens ein bisschen Erleichterung bringen?

Manche arbeiten mit Reizübertragung. Statt sich zu kratzen, berühren sie eine raue Oberfläche. Statt an der Haut zu drücken, legen sie ein Kältepad auf. Statt zu ziehen, schnipsen sie ein Gummiband an der Haut. Aber das funktioniert nur, wenn es nicht von außen verordnet wird. Sondern wenn es im eigenen Tempo und mit eigenen Entscheidungen passiert.

Auch Medikamente können manchmal helfen. Vor allem wenn eine zugrunde liegende ADHS-Symptomatik besteht, die unbehandelt ist. Dann kann eine gezielte Therapie mit Stimulanzien oder anderen Wirkstoffen die Grundspannung verringern. Das gleiche gilt bei Zwangssymptomen oder depressiven Zuständen.

Aber der wichtigste Schritt ist meist ein anderer. Nämlich anzuerkennen, dass diese Handlungen nicht „komisch“ sind, sondern logisch. Dass sie eine Funktion haben, dass sie nicht Ausdruck von Schwäche sind, sondern von Überforderung. Und dass es nicht darum geht, sie sofort zu eliminieren. Sondern erstmal zu verstehen, was sie regulieren.

Wie auch bei anderen dysfunktionalen Verhaltensweisen, man nennt sie auch maladaptiv, hatten oder haben sie ihren Sinn und eine Funktion und zwar zu helfen. Der allerwichtigste Schritt ist also, diese zunächst einmal durch viel Selbstbeobachtung zu erkennen und sie aus dem Unterbewussten ins Bewusstsein zu holen.

Und erst, wenn man typische Auslöser, bestimmte Situationen, bestimmte Tageszeiten oder bestimmte Menschen identifiziert hat, ist es sinnvoll sich mit Skills zu beschäftigen und auszuprobieren, was vielleicht auch zur Regulation helfen kann, ohne sich selbst zu verletzen.

Vielleicht kann dies der erwähnte Gummi zum Schnipsen sein oder eine Chili (oder ein Chili-Bonbon) oder ein intensiver Geruch. Möglichweise hilft Sport, etwa gegen einen Boxsack zu schlagen. Manchmal sind es Kleinigkeiten wie ein neues Fidget Toy und manchmal hilft es, einfach nur in ein Kissen zu brüllen. 😉

Menschen mit ADHS und Autismus erleben die Welt oft ungefiltert. Ihre Reaktionen darauf sind kein Fehler im System. Sondern ein Versuch, mit diesem System zu leben. Und manchmal ist der Preis dafür eben die eigene Haut, die Haare oder Fingernägel.

Es ist leicht zu sagen, dass man das lassen soll. Viel schwerer ist es, einen Weg zu finden, wie man sich selbst helfen kann, ohne sich dabei wehtun zu müssen.