Neurodivergenz und Normalität: Wer hat eigentlich das Monopol aufs richtige Gehirn?

Neurodivergenz und Normalität: Wer hat eigentlich das Monopol aufs richtige Gehirn?

Warum das Konzept vom „richtigen“ Gehirn überholt ist und Neurodivergenz unser Bild von Normalität neu definiert.

Manche Wörter klingen so, als wären sie in Stein gemeißelt. „Normal“ ist eines davon. Dieses Wort wird gerne in den Raum gestellt, so als gäbe es eine klare Linie, an der man sich orientieren kann. Wer innerhalb dieser Linie lebt, gilt als normal. Wer außerhalb davon steht, gilt als auffällig, schwierig oder gleich krank. Doch sobald man anfängt zu fragen, was dieses Normal eigentlich sein soll, wird es wackelig. Und im Kontext von Neurodivergenz wird es geradezu absurd. Denn die Frage lautet doch, wer entscheidet eigentlich, welches Gehirn richtig tickt und welches falsch.

Wenn wir ehrlich sind, ist Normalität eher ein gesellschaftlicher Kompromiss als ein biologisches Gesetz. Die Mehrheit legt fest, was gerade als üblich gilt. Heute ist es vielleicht die Fähigkeit, multitaskingfähig zu sein, Smalltalk zu lieben und immer pünktlich zu erscheinen. Vor hundert Jahren galt es als normal, in Großfamilien zu leben, strenge Tagesstrukturen einzuhalten und kaum über Gefühle zu sprechen. Und in hundert Jahren wird es vielleicht völlig normal sein, dass Menschen mit Sensorikbrillen durch die Stadt laufen, um Reize besser zu regulieren. Normal ist also nichts anderes als eine bewegliche Linie, die je nach Zeit, Kultur und Machtgefüge verschoben wird.

Genau hier kommt Neurodivergenz ins Spiel. Menschen mit Autismus, ADHS, Dyslexie oder anderen neurologischen Besonderheiten passen oft nicht in diese Linie. Sie denken anders, fühlen intensiver, reagieren sensibler oder haben ganz eigene Wege, die Welt zu verstehen. Anstatt diese Vielfalt als Bereicherung zu sehen, wird sie häufig als Abweichung oder Störung bewertet. Das Ergebnis sind Diagnosen, Stempel und jede Menge Anpassungsdruck. Dabei könnte man auch fragen, ob nicht die Gesellschaft abweicht, wenn sie Vielfalt systematisch aussortiert.

Ein Beispiel ist die Arbeitswelt. Dort gilt es als normal, acht Stunden still am Schreibtisch zu sitzen, linear zu arbeiten und sich ohne Pause auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Für viele neurodivergente Menschen ist das schlicht unmachbar. Ihr Gehirn arbeitet nicht linear, sondern in Sprüngen. Es braucht Pausen, Bewegung und andere Reizumgebungen. Doch anstatt die Arbeitsumgebung zu hinterfragen, wird den Betroffenen vermittelt, sie müssten ihre Eigenheiten regulieren, um ins Raster zu passen. Normalität wird hier als eine Art Monopol durchgesetzt. Wer anders denkt, hat gefälligst zu kompensieren.

Das Problem an diesem Monopol ist, dass es unsichtbar bleibt. Niemand schreibt offen auf eine Stellenausschreibung, dass nur neurotypische Menschen erwünscht sind. Aber die Regeln sind so gestaltet, dass Abweichungen kaum Platz finden. Dasselbe zeigt sich im sozialen Bereich. Es gilt als normal, beim Kennenlernen festen Blickkontakt zu halten, höfliche Floskeln zu bedienen und dabei noch entspannt zu wirken. Für viele Autistinnen und Autisten ist Blickkontakt jedoch anstrengend, für viele ADHS’ler:innen sind Smalltalk-Routinen schlicht eine Qual. Und trotzdem wird am Ende diejenige Person als unhöflich oder seltsam eingeordnet, die diese unausgesprochenen Regeln nicht befolgt.

Dabei wäre es viel ehrlicher zuzugeben, dass Normalität eine Mehrheitsmeinung ist und kein objektiver Maßstab. Die Mehrheit hat sich daran gewöhnt, dass ein bestimmtes Verhalten praktisch und angenehm ist. Aber das heißt nicht, dass andere Verhaltensweisen falsch sind. Es bedeutet nur, dass sie nicht ins gewohnte Muster passen. Das wäre kein Problem, wenn man dieses Muster immer wieder neu verhandeln würde. Doch in der Praxis bleibt es erstaunlich starr.

Neurodivergenz zeigt uns sehr klar, wie willkürlich die Linie der Normalität ist. Wenn ein autistisches Kind lieber mit Zahlen oder Strukturen spielt als mit Puppen, wird das schnell als Defizit gelesen, das Kind ist sonderbar. Wenn ein Kind mit ADHS nicht stillsitzen kann, sondern beim Lernen herumläuft, gilt das als Störung. Dabei könnten diese Eigenheiten genauso gut als andere Formen des Lernens und Verstehens betrachtet werden. Sie sind nicht weniger wert, sondern nur weniger kompatibel mit den gesellschaftlichen Erwartungen.

Es lohnt sich auch, einmal die Perspektive umzudrehen. Viele Eigenschaften, die heute als neurodivergent und damit problematisch gelten, sind in bestimmten Kontexten hochgeschätzt. Hyperfokus bei ADHS kann in kreativen Prozessen oder in Forschungssituationen eine enorme Stärke sein. Detailgenauigkeit bei Autismus ist in analytischen oder technischen Feldern ein unschätzbarer Vorteil. Was in einem Klassenzimmer als unnormal abgetan wird, kann im Berufsleben plötzlich als genial gefeiert werden. Und genau das zeigt, dass Normalität nichts über den Wert einer Fähigkeit aussagt, sondern nur über ihre Passung in den aktuellen Kontext.

Wenn man also fragt, wer das Monopol aufs richtige Gehirn hat, müsste die ehrliche Antwort lauten, niemand. Denn es gibt nicht das eine richtige Gehirn. Es gibt nur eine gesellschaftliche Norm, die von Macht, Tradition und Bequemlichkeit geprägt ist. Diese Norm hat die Angewohnheit, sich selbst für die Wahrheit zu halten, obwohl sie in Wirklichkeit nur eine Mehrheitserzählung ist. Und weil diese Mehrheitserzählung oft unhinterfragt bleibt, entsteht für neurodivergente Menschen ein enormer Druck, sich anzupassen.

Die Folge ist Masking, also das bewusste Verbergen eigener Merkmale, um vorn anderen unauffällig zu wirken. Viele Menschen mit Autismus oder ADHS verbringen ihr halbes Leben damit, sich in Situationen hineinzupressen, die ihnen eigentlich nicht guttun, nur um als normal zu gelten. Sie üben Blickkontakt, obwohl es sie anstrengt, sie gehen zu Smalltalk-Runden, obwohl sie leer davon zurückkommen, und sie versuchen, ihre Denkweise linear zu erklären, obwohl ihr Gehirn längst in Querverbindungen arbeitet. All das, nur um nicht ständig an der unsichtbaren Norm zu scheitern.

Doch das Leben in dieser permanenten Anpassung hat einen hohen Preis. Es kostet Energie, erzeugt Stress und führt nicht selten zu Erschöpfung oder Burnout. Es zeigt, wie ungesund es ist, wenn Normalität als feste Schablone verstanden wird, anstatt als flexible Größe. Denn Menschen sind vielfältig, ihre Gehirne sind es auch. Anstatt also ein Monopol auf das richtige Gehirn zu verteidigen, könnte eine inklusive Gesellschaft Normalität neu denken. Normal wäre dann nicht das, was die Mehrheit vorgibt, sondern das, was für jede einzelne Person funktioniert.

Das bedeutet nicht, dass alles immer reibungslos zusammenpasst. Unterschiedliche Bedürfnisse können in Konflikt geraten. Doch anstatt diese Konflikte mit dem Etikett normal oder unnormal zu beenden, könnten sie als Aushandlungsprozesse verstanden werden. Man könnte sagen, diese Person braucht mehr Ruhe, jene Person mehr Bewegung, diese Person klare Strukturen, jene Person mehr Freiheit. Alle diese Bedürfnisse sind real und legitim. Und wenn sie berücksichtigt werden, profitieren am Ende alle.

Die Diskussion über Neurodivergenz und Normalität ist deshalb keine theoretische Spielerei, sondern eine Frage von Teilhabe und Gerechtigkeit. Denn solange Normalität als starres Monopol verteidigt wird, bleiben viele Menschen ausgeschlossen oder unsichtbar. Erst wenn klar wird, dass es kein richtiges Gehirn gibt, sondern viele unterschiedliche, kann eine Gesellschaft wirklich inklusiv sein.

Am Ende bleibt also die Frage, ob wir bereit sind, die Idee von Normalität loszulassen und Vielfalt nicht als Ausnahme, sondern als selbstverständlich anzusehen. Es geht darum, das Monopol aufs richtige Gehirn zu kippen und Platz zu schaffen für verschiedene Denk- und Lebensweisen. Und das wäre die eigentliche Normalität, die uns alle weiterbringt.