Avicii hören, heißt fühlen – ein stiller Mensch in einer lauten Welt
Es gibt Dinge, die begleiten einen, ohne dass man es sofort merkt. Musik zum Beispiel. Oder Menschen, die Musik machen, als wäre sie eine ganz eigene Sprache, die das Herz berührt. Avicii, eigentlich Tim Bergling, war so einer. Und ja, ich gebe es zu, Avicii ist eins meiner Special Interests. Vielleicht, weil mein erster Beruf Event-Managerin für elektronische Partys war und mein Herz noch immer an der Szene hängt, auch wenn sie schön, aber so zerstörerisch sein kann.
Ich mag ihn nicht wegen des Hypes. Sondern wegen dieser stillen Kraft, die seine Musik hat. Wegen der Struktur und dem Aufbau seiner Stücke und dem Gefühl, das da drin liegt. Wegen der wunderschönen Melodien und wegen dem, was dahinter war. Er war ein Mensch, der in einer Welt überlebt hat, die für Leute wie ihn – und viele von uns – viel zu laut, viel zu schnell und viel zu viel war.
Er war einer der erfolgreichsten Musikproduzenten unserer Zeit. Aber hinter all dem war er vor allem eines, ein stiller, sensibler Mensch, der die Welt tief fühlte und sich in ihr und seinen Gedanken oft verloren fühlte.
Tim Bergling wurde am 8. September 1989 in Stockholm geboren. Seine Mutter war Schauspielerin, sein Vater Geschäftsmann. Für ihn waren es die besten Eltern der Welt, wie er selbst angab. Und Tim? Tim war ruhig, feinfühlig und hochsensibel. Schon als Kind zog er sich lieber zurück, war oft ängstlich, bastelte am Rechner und versank in Sounds. Er war einer, der sich in Einzelheiten verlor und an Perfektion hing. Einer, der lieber beobachtete als redete, der in Musik aufging, lange bevor er sie überhaupt richtig verstand. Während andere wild tobten, baute er Welten aus Tönen. Nicht, weil er weltfremd war, sondern weil er die Welt zu intensiv wahrnahm und sich irgendwie ausdrücken wollte.
Im Rückblick sprechen viele über ihn als jemanden, der möglicherweise neurodivergent war. Als Kind aß er „stur“ eine lange Zeit nur eine bestimmte Art von Crackern und war jeher sehr fest in dem, was er wollte und was nicht. Er hatte Schwierigkeiten, Blickkontakt zu halten und hasste Smalltalk, den er so zermürbend fand. Vielleicht autistisch, vermutlich mit ADHS. Diagnostiziert wurde (offiziell) nie so etwas.
Aber wer sich mit Neurodivergenz auskennt, erkennt vieles wieder. Die Reizempfindlichkeit, die chronische Überforderung im sozialen Miteinander, der Rückzug, die Überfokussierung auf bestimmte Themen, die Schwierigkeit, sich abzugrenzen, Pausen zu machen, Nein zu sagen. Und dann diese fast übermenschliche Detailwahrnehmung, nicht nur in Tönen, sondern auch in Gefühlen. Wenn man zwischen den Zeilen liest, merkt man es. Die Reizüberflutung auf Tour, die Anspannung in Interviews, die Suche nach Kontrolle in einem Business voller Chaos. Und diese unglaubliche Fähigkeit, aus kleinstem Material monumentale Strukturen zu bauen. Achtet mal auf seine spezielle Handhaltung, wenn er auflegte.
Ich war nie jemand, der gerne im Mittelpunkt steht. (Tim Bergling)
Mit 16 begann er, elektronische Musik (House und später Electronic Dance Music, EDM) zu produzieren, in seinem Jugendzimmer. Allein, konzentriert und detailverliebt. Er stellte seine Tracks auf Musikforen online, erhielt Feedback, probierte weiter. Er nannte sich zunächst Moonboy, fand den Namen aber nicht reif genug, als er erfolgreicher wurde. Daher benannte er sich in Avicii um (Avici war auf Myspace bereits vergeben), benannt nach dem tiefsten buddhistischen Höllenkreis. Schon der Name ließ ahnen, dass er nicht der typische Party-Mensch war.
Der internationale Durchbruch kam 2011 mit „Levels“. Und die Welt explodierte. Clubs, Festivals, Charts. Millionen Klicks, alle wollten ihn. Die Mischung aus euphorischer Melodie und Etta-James-Sample wurde zum Vorbild für die moderne EDM-Szene. Avicii wurde über Nacht zum Star. Er spielte auf den größten Festivals weltweit, arbeitete mit Coldplay, Madonna, Aloe Blacc, Rita Ora. Er bekam Auszeichnungen, Millionen Follower, viel Geld und Ruhm.
Doch mit dem Ruhm kam auch der Widerspruch. Tim, der introvertierte, feinfühlige Junge, stand plötzlich auf Bühnen vor zehntausenden Menschen. Lichter, Lärm, Interviews und Erwartungen. Für viele ein Traum, für ihn Reizüberflutung pur. Mehrere Auftritte an einem Tag auf verschiedenen Kontinenten. Mehrfache Silvesterpartys, von Zeitzone zu Zeitzone.
Er sprach später offen über seine Angststörungen, seine sozialen Schwierigkeiten und seine Überforderung durch das Tourleben. Interviews, Smalltalk, grelles Licht, Jetlag, ständiger Lärm… Für einen hochsensiblen, möglicherweise neurodivergenten Menschen war das kaum auszuhalten. Er betäubte sich mit Alkohol, später mit starken Opioiden, Diazepam und Antidepressiva. Er erlitt eine wiederkehrende, sehr schmerzhafte Entzündung seiner Bauchspeicheldrüse, vermutlich ausgelöst durch ein Akne-Medikament und Alkohol, verlor in kurzer Zeit viel an Gewicht und war ein Schatten seiner selbst. Er musste sich operativ die Gallenblase und den Blinddarm entfernen lassen. Der Erfolg hatte einen großen Preis. Und der Preis war er selbst.
Ich hatte das Gefühl, dass ich nie wieder ganz ich selbst sein werde, wenn ich so weitermache. (Tim Bergling)
Im April 2016, mit gerade einmal 26 Jahren, beendete Tim seine Live-Karriere. Er sagte radikal alle Auftritte ab, kündigte sein Management. In einem offenen Brief erklärte er, dass er sich selbst verloren habe. Dass er wieder Luft brauche. Dass kein Raum mehr für Tim war, den Menschen hinter der Kunstfigur Avicii. Dass er Musik liebe, aber das Drumherum nicht mehr ertragen könne, nahezu hasste, besonders die Auftritte vor tausenden von Menschen, die wegen seiner ausgeprägten sozialen Ängste sehr belastend für ihn waren. Er konnte sie nur noch betäubt ertragen, was ihm körperlich und mental von ärztlicher Sicht strikt untersagt wurde. Letztendlich brachte er vielen Menschen viel Geld ein und wurde im Show-Business völlig verheizt.
Für viele kam sein Rückzug überraschend, für mich kam er viel zu spät. Für Menschen, die ähnlich fühlen, war es der vielleicht wichtigste Schritt, den er je gegangen ist. Er brauchte Abstand, seine alten Freunde, er reiste, meditierte, schrieb Tagebuch und produzierte weiter. Er liebte es, sich mit dem kleinen Sohn seiner Freundin zu beschäftigen und dachte daran, selbst Vater zu werden. Er machte Musik. Für sich und für andere und für Ruhe in seinem Kopf. In dieser Phase entstanden einige seiner berührendsten Songs, etwa „Heaven“, „SOS“ oder „Without You“. Lieder wie Tagebucheinträge. Kein Lärm mehr, nur Gefühl, aber auch Traurig- und Hilflosigkeit. Sie klangen anders. Reifer, verletzlicher und wahrhaftiger. Rückblickend ein trauriger Spiegel seiner Seele. Er hatte so viel zu sagen, aber zu wenig Raum, es zu verarbeiten. Sein nahes und familiäres Umfeld, das sehr besorgt und engagiert war, verstand viel zu spät das Ausmaß seiner mentalen Verfassung.
Er versuchte, zu sich zu finden, weg vom Erfolg, der ihn nicht glücklich machte. Er machte Entzüge, wurde psychotherapeutisch betreut und begann, stundenlang zu meditieren, jeden Tag. Doch offenbar „verirrte“ er sich dabei immer weiter und weiter, oder war er am Ende einfach nur konsequent?
Am 20. April 2018 kam die Nachricht, die die Musikwelt völlig aus den Fugen riss. Tim sei tot. Mit 28 Jahren. Suizid. In einem Hotelzimmer im Oman. Er hatte zuvor einen so glücklichen und gelösten Eindruck gemacht, sich körperlich erholt und sah viel gesünder aus. Für viele kam es so unerwartet. Doch offenbar war dies die berühmte und gefährliche emotionale Entlastung nach der Entscheidung zum Suizid, die ihn friedlich wirken ließ und viel zu spät als solche erkannt wurde. Seine Eltern versuchten noch, aus Gran Canaria zu ihm zu gelangen, da sie sich sorgten, bekamen aber keinen Flug, was sehr tragisch war.
Die Familie veröffentlichte einen Brief, in dem sie von einem zutiefst sensiblen Menschen sprach. Von jemandem, der die Kontrolle verloren habe. Der nach Frieden gesucht habe und ihn nicht mehr fand. Viele fragten sich, wie jemand, der so viel Licht in die Welt gebracht hat, so viel Dunkelheit in sich tragen konnte. Seine Musik war so voller Melancholie aber auch Hoffnung. Wer jedoch das Wesen hochsensibler oder neurodivergenter Menschen kennt, weiß, dass diese Frage zu kurz greift. Denn solche Menschen zerbrechen nicht, weil sie schwach sind, sondern weil sie viel zu viel fühlen, zu viel wahrnehmen und zu wenig filtern können.
Und nein, ich werde das nicht beschönigen. Es war ein Akt der Verzweiflung. Von jemandem, der zu viel fühlte und zu wenig Schutz hatte.
Er konnte nicht weitermachen. Er wollte Frieden finden. (Aus dem Brief seiner Familie)
Nach seinem Tod gründete seine Familie die Tim Bergling Foundation . Die Stiftung setzt sich weltweit für Aufklärung über psychische Gesundheit, Suizidprävention und Sensibilität für neurodivergente Menschen ein. Tim selbst setzte sich sehr für Wohltätigkeit ein. Was Tim in seinem Leben gefehlt hat, soll nun anderen helfen.
Für mich ist Avicii nicht nur ein Künstler. Er ist ein Beispiel für das, was passiert, wenn hochsensible, neurodivergente Menschen keine Ruhe finden und in gefährliche Strukturen geraten. Nicht Nein sagen dürfen. Wenn Stille fehlt, obwohl das Gehirn sie so dringend braucht. Und funktionieren, bis nichts mehr übrig ist.
Sein posthum veröffentlichtes Album „TIM“ enthält Titel, die er vor seinem Tod fast vollendet hatte, zu Ende geführt von Menschen, die ihm nahe waren. Die Songs darauf sind Abschiedsbriefe, Aufschreie und Hoffnungslieder. Und sie zeigen noch einmal – dieser Mensch hat nicht Musik gemacht, er war Musik.
Seine Musik lebt weiter. In Kopfhörern, auf Festivals und in unseren Herzen. Vor allem in den Zwischenräumen. Dort, wo man nicht laut sein muss, um gehört zu werden.
Sie ist für viele einfach EDM. Für mich ist sie ein Safe Space für das neurodivergente Gehirn. Weil sie klar ist, weil sie rhythmisch ist. Und genau deshalb ist sie für viele neurodivergente Gehirne eine Wohltat. Weil sie sich aufbaut wie ein Gespräch, das man nicht unterbrechen will. Weil sie vorhersehbar und trotzdem emotional und verspielt ist. Und weil sie nie zu laut sagt, wie man fühlen soll, aber alles so sehr fühlbar macht.
Ein paar Zitate, die bleiben dürfen:
Ich liebe das Musikmachen. Es ist das, was ich am besten kann. Aber das Tourleben hat mich kaputtgemacht. (Tim Bergling)
Manche Leute sind für das Rampenlicht gemacht. Ich bin keiner davon. Ich war nie jemand, der gerne im Mittelpunkt steht. (Tim Bergling)
Ich war zu sensibel für diese Maschine. Ich hatte das Gefühl, dass ich nie wieder ganz ich selbst sein werde, wenn ich so weitermache. (Tim Bergling)
Und wenn du jetzt neugierig bist – hier ist meine (leider nicht geordnete) persönliche Avicii-Playlist. Und es gibt noch so viel mehr schöne Songs, Live-Auftritte und Remixe. Und ja, du darfst dabei auch tanzen! 🙂
- Bromance (Avicii’s Arena Mix, ohne Vocals)
- Bromance (I Found You Mix)
- Without You (feat. Sandro Cavazza, die Version, in der nichts gestummt wird)
- Levels (die lange Version)
- SOS (feat. Aloe Blacc)
- The Nights (Avicii By Avicii)
- Wake Me Up
- Heaven
- Waiting For Love (Mixed)
- Lonely Together (feat. Rita Ora)
- Fade Into Darkness (Vocal Club Mix)
- I Could Be The One (Avicii & Nicky Romero)
- For A Better Day (Avicii Arena Version, Ella Tiritiello & Royal Stockholm Philharmonic Orchestra)
- Forever Yours (Tim’s 2016 Ibiza Version)
- Broken Arrows
- Tough Love
- A Sky Full of Stars (Avicii edit)
- Peace of Mind
- Alcoholic (Tim Berg)
- Silhouettes
- Before This Night Is Through (Bad Things)
- Tweet It (Tim Berg, Norman Doray & Sebastian Drums)
- You Make Me
- Addicted To You
- Dear Boy
- Liar Liar
- Lay Me down
- Hope There’s Someone
- Edom
- Sunshine/Spectrum (Mixed, David Guetta, Avicii & Florence + the Machine)
Wenn du tiefer eintauchen willst, hör dir sein posthum veröffentlichtes Album “TIM” in einem Stück an. Kopfhörer auf, Welt aus. Unglaublich schön ist das „Avicii Tribute Concert: In Loving Memory of Tim Bergling“ (YouTube). Sehr zu empfehlen sind auch die Dokumentationen „True Stories“ (YouTube) und „Tim“ (Netflix) sowie die offizielle Avicii-Biographie „Tim“ von Måns Mosesson in Buchform. Viele schöne Bilder, Kommentare und Erinnerungen sind auch auf der offiziellen Avicii Website enthalten.
Danke Tim, für alles. Für den Beat, der bleibt und für wunderschöne hoffnungsvolle und mitreißende Melodien und deinen ganz eigenen und unverkennbaren Stil. Für den Mut, den du hattest und für das, was du gesagt hast, ohne Worte.
Wenn du dich auch schon mal zu viel gefühlt hast, wenn du dich in deiner Reizverarbeitung verloren hast, wenn du Struktur suchst und dich dabei nach Gefühl sehnst, dann schenk dir ein bisschen Avicii. Vielleicht passt es genau jetzt, und vielleicht findest du dich in ihm ein Stückchen selbst wieder.
Foto-Quelle:
Mark Runyon / ConcertTour.net