Das Problem des Wartens bei Autismus und ADHS
Warten. Uff. Klingt nach einer Kleinigkeit. Ein paar Minuten an der Supermarktkasse, ein bisschen Zeit im Wartezimmer, ein kurzer Moment, bis die Nudeln fertig sind. Für viele Menschen sind das Nebensachen, kleine Pausen im Alltag. Für neurodivergente Menschen können diese Augenblicke jedoch anstrengend sein, viel anstrengender, als sie von außen wirken.
In der Schlange an der Kasse zieht sich jede Minute. Drei Leute stehen vorne, der Scanner piept immer im gleichen Rhythmus und die Luft fühlt sich stickig an. Die Gedanken kreisen, der Körper wird unruhig, die Zeit scheint stillzustehen. Manche fangen an, das Kleingeld schon zehnmal durchzuzählen, andere scrollen nervös am Handy, in der Hoffnung, die Sekunden schneller vergehen zu lassen. Für Außenstehende sieht es aus wie ganz normales Warten, innen fühlt es sich wie eine kleine aber heftige Prüfung an.
Ähnlich ist es beim Arzt. Ein Termin ist um zehn Uhr angesetzt, doch man sitzt noch eine halbe Stunde später im Wartezimmer. Niemand weiß, wie lange es noch dauert. Die Zeitschriften auf dem Tisch helfen nicht, die Gedanken bleiben immer wieder bei der Frage hängen, wann man endlich aufgerufen wird. Jede Tür, die aufgeht, jede Stimme im Flur löst einen kurzen Hoffnungsschub aus.
Und dann gibt es das digitale Warten. Eine Nachricht wurde verschickt, sie ist sogar schon gelesen worden, doch die Antwort kommt nicht. Nach wenigen Minuten fühlt es sich an, als würde die Zeit gedehnt. Das Gehirn füllt die Lücke mit Fragen und Unsicherheit. Habe ich etwas Falsches geschrieben, ist die Person beschäftigt, kommt überhaupt noch eine Reaktion? Eine kleine Pause wird so zu einem großen inneren Film.
Auch im Kleinen ist Warten überall. Das Wasser im Topf braucht ewig, bis es kocht, und man steht daneben, schaut alle paar Sekunden nach und fragt sich, warum es so lange dauert. Oder das Smartphone lädt eine App und das kleine Symbol dreht sich, während man ungeduldig auf den Bildschirm starrt. Selbst an der Ampel können Sekunden endlos scheinen, sodass man reflexartig den Knopf noch einmal drückt, obwohl man genau weiß, dass es nichts beschleunigt.
Viele kennen auch das Warten auf den Paketboten. Zwischen acht und sechzehn Uhr soll er kommen. Die ganze Zeit bleibt man in Habachtstellung, wagt es kaum, in etwas anderes einzutauchen, weil es jederzeit klingeln könnte. Das Gefühl, auf Stand-by zu stehen, ist unglaublich zermürbend. Oder die Waschmaschine läuft und man schaut immer wieder auf die Uhr, als müsse man sofort aufspringen, sobald sie fertig ist. Selbst diese winzigen Alltagsmomente zeigen, wie stark Warten das innere Erleben beeinflussen kann.
Die Gründe dafür sind unterschiedlich, die Erfahrung aber erstaunlich ähnlich. Bei ADHS entsteht schnell das Gefühl von Leere, wenn nichts passiert. Das Gehirn sucht nach Reizen (Dopamin-Kick), nach Aktivität, nach sofortiger Rückmeldung, und wenn es die nicht bekommt, wird die Unruhe größer. Bei Autismus ist es oft die Unsicherheit. Nicht zu wissen, wann etwas passiert, bricht die vertraute Struktur auf. Das erzeugt Anspannung und nimmt Sicherheit.
Von außen sieht das unspektakulär aus. Innen fühlt es sich an, als kostet jede Wartezeit doppelt so viel Energie. Das erklärt auch, warum so viele neurodivergente Menschen Wartezeiten mit Ablenkungen füllen. Sie hören Musik, lesen, scrollen am Handy oder beschäftigen ihre Hände, einfach um die Spannung besser auszuhalten.
Es ist nicht nötig, daraus einen großen Ratgeber zu machen. Schon das Wissen, dass Warten für neurodivergente Menschen keine Nebensache ist, sondern Kraft kostet, macht einen Unterschied. Es ist kein Makel, keine fehlende Tugend, sondern eine reale Erfahrung. Wenn man sie ernst nimmt, fällt es leichter, freundlicher mit sich selbst zu sein. Man darf genervt sein, man darf es schwer finden, man darf Wege suchen, die es leichter machen. Warten wird dadurch nicht verschwinden, aber es verliert den Beigeschmack von persönlichem Versagen. Es bleibt ein Teil des Alltags, manchmal anstrengend, manchmal auszuhalten, manchmal leichter, wenn man weiß, dass man nicht allein damit ist.