Überempathie bei Autismus: Warum zu viel Mitgefühl auch wehtun kann

Hilfe, ich fühle zu viel! Überempathie bei Autismus

Überempathie bei Autismus: Warum zu viel Mitgefühl auch wehtun kann

Es klingt erstmal wie ein Widerspruch- Autismus und Empathie. Denn was man jahrelang in Büchern, Medien oder sogar in Fachtexten lesen konnte, ist oft das Gegenteil von dem, was viele autistische Personen, oft weiblich sozialisierte, selbst erleben. Da steht dann etwas von „Empathiedefizit“, von mangelndem Einfühlungsvermögen, von Schwierigkeiten, sich in andere hineinzuversetzen. Und dann sitzt da jemand, oft eine Frau, manchmal auch eine nicht-binäre oder maskierende Person, und sagt: „Aber ich spüre so viel. Manchmal zu viel. So sehr, dass ich gar nicht mehr weiß, ob das gerade mein Gefühl ist oder das von jemand anderem.“ Und mit diesem Satz ist man plötzlich in einem ganz anderen Thema, dem der „Überempathie“.

Denn ja, es gibt sie. Diese Form der tiefen, durchlässigen Empathie, die oft gar nicht mehr steuerbar ist. Viele autistische Frauen berichten davon, dass sie Emotionen anderer Menschen so intensiv wahrnehmen, dass sie sie kaum noch von ihren eigenen unterscheiden können. Dass sie in Gesprächen plötzlich traurig oder wütend werden, ohne zu wissen, warum. Dass sie in einer Gruppe den emotionalen Tonraum wie ein hochsensibles Mikrofon scannen und dabei völlig den Kontakt zu sich selbst verlieren. Dass sie regelrecht aufsaugen, was andere fühlen. Und dann völlig erschöpft nach Hause kommen, überreizt, innerlich übervoll.

Das klingt nicht nach dem klassischen Bild von Autismus. Aber es ist ein Teil davon. Bei vielen Betroffenen, insbesondere bei Frauen und denen, die gut im Maskieren sind. Und es ist wichtig, darüber zu sprechen. Denn was hier oft als „Überempathie“ beschrieben wird, ist keine Schwäche oder ein Zeichen von mangelnder Abgrenzung, sondern eine besondere Art der Wahrnehmung. Eine, die tief geht. Und manchmal schmerzt.

Was passiert da eigentlich?

Zunächst mal lohnt sich ein kleiner Ausflug in die Neurobiologie. Autistische Menschen haben eine andere Reizverarbeitung, das ist bekannt. Das betrifft nicht nur Geräusche, Licht, Temperatur oder Körperempfindungen, sondern eben auch soziale Reize wie Mimik, Gestik, Stimmlagen oder Spannungen im Raum. Man kann sich das vorstellen wie ein Nervensystem ohne Filter. Alles kommt rein. Ungedämpft. Roh. Unsortiert. Während viele neurotypische Menschen gewisse Signale ganz selbstverständlich ausblenden, weil sie für die Situation gerade nicht relevant sind, bleibt bei autistischen Menschen alles gleichzeitig „an“.

Hinzu kommt, dass viele autistische Personen im Laufe ihres Lebens gelernt haben, soziale Stimmungen extrem genau zu analysieren. Nicht, weil sie das intuitiv können, sondern weil sie es mussten, um dazuzugehören. Um zu vermeiden, unangenehm aufzufallen. Um zu kompensieren, dass ihnen gewisse „automatische“ soziale Fähigkeiten fehlen. Das führt zu einer Art sozialem Hochleistungsmodus und einer ständigen Beobachtung der anderen. Und wenn man dauerhaft auf Empfang steht, verlernt man irgendwann, auf die eigene Frequenz zu achten.

Außerdem reagieren autistische Gehirne anders auf Stress. Studien zeigen, dass bei vielen Autist:innen das sogenannte „Salienznetzwerk“ – ein Hirnnetzwerk, das emotionale Bedeutung bewertet – besonders aktiv ist. Das heißt, dass bestimmte emotionale Signale schneller, stärker und bedrohlicher eingeordnet werden. Wenn jemand im Raum wütend ist, nimmt man das nicht nur wahr, man fühlt es. Als wäre es die eigene Wut. Und manchmal verschiebt sich diese Grenze so stark, dass das eigene Ich ganz leise wird.

Viele Betroffene berichten auch, dass sie, obwohl sie sehr einfühlsam sind, Schwierigkeiten haben, Emotionen sprachlich zu differenzieren. Es fühlt sich einfach nur „viel“ an. Oder „zu intensiv“. Manchmal auch körperlich spürbar durch Herzklopfen, Enge im Brustkorb und Tränen, ohne klar benennen zu können, was da gerade passiert. Auch das hat einen Namen, nämlich „Alexithymie“. Auch wenn der Begriff übersetzt „Gefühlsblindheit“ bedeutet, heißt das nicht, dass man keine Gefühle hat, sondern, dass man sie schwer benennen oder auseinanderhalten kann. Wenn dann noch die Emotionen anderer mit reinfließen, wird es richtig kompliziert.

Dazu kommt oft noch eine tiefe Verantwortlichkeit. Viele autistische Frauen sind extrem gewissenhaft. Sie spüren nicht nur, dass jemand traurig ist, sie fühlen sich sofort zuständig. Sie denken nach, suchen Lösungen, übernehmen emotionale Last, bevor jemand überhaupt darum gebeten hat. Und weil sie oft Schwierigkeiten haben, ihre eigenen Grenzen zu spüren oder durchzusetzen, merken sie zu spät, wann es zu viel ist. Oder sie haben gelernt, dass ihr eigener Zustand sowieso weniger zählt, Hauptsache, der andere fühlt sich besser.

Das kann auf Dauer krank machen. Emotional. Psychisch. Körperlich. Denn das Nervensystem ist nicht dafür gemacht, dauerhaft fremde Emotionen zu spüren. Besonders dann nicht, wenn man sie nicht einordnen oder bewusst loslassen kann. Viele autistische Frauen entwickeln deshalb psychosomatische Beschwerden wie Depressionen oder einen „autistischen Burnout“, ohne je verstanden zu haben, dass der Ursprung nicht in zu wenig Mitgefühl, sondern im Zuviel davon liegt.

Ein großes Thema ist auch die mangelnde Abgrenzung zwischen „Ich“ und „Du“. In der Fachwelt nennt man das manchmal „emotionale Durchlässigkeit“. Es ist, als hätte man keine Haut zwischen sich und der Welt. Alles prallt direkt auf die Innenwelt. Und wenn man über Jahre oder Jahrzehnte nicht gelernt hat, diesen inneren Raum zu schützen, dann kann das extrem belastend werden. Besonders in Beziehungen, wo man sich oft in den anderen hineinfühlt, was bis hin zur Selbstaufgabe führen kann. Man denke hier etwa an eine Beziehung zu einer narzisstischen Person.

Aber es gibt Wege, damit umzugehen. Der erste Schritt ist, überhaupt zu verstehen, dass dieses „Zuviel-Fühlen“ nicht falsch ist, sondern ein Teil des autistischen Erlebens sein kann. Kein Widerspruch zum Diagnosekriterium, sondern eine andere Art, Empathie zu erleben. Nämlich nicht kognitiv gesteuert („Ich verstehe, was du fühlst“), sondern körperlich und emotional direkt gespürt („Ich fühle, was du fühlst“). Und das ist eigentlich eine riesige Gabe, wenn man lernt, sich selbst dabei nicht zu verlieren.

Hilfreich ist es, sich regelmäßig zu fragen, „Was ist gerade meins?“ Und was ist vielleicht von jemand anderem? Manchmal hilft ein einfacher Bodyscan, also sich kurz hinsetzen, durch den Körper gehen, spüren und zu erleben, „Was ist da?“ Habe ich das Gefühl mitgebracht, oder ist es erst durch die andere Personentstanden? Auch klare Pausen, bewusster Rückzug und das Erlauben von innerer Distanz sind enorm wichtig.

Manche Menschen entwickeln kleine Rituale, um sich emotional abzugrenzen, etwa, sich die Hände zu waschen nach einem intensiven Gespräch, einen inneren Vorhang schließen, eine imaginäre Schutzhaut aktivieren oder etwas anders Hilfreiches, was den Übergang und das Loslassen erleichtert. Klingt vielleicht erstmal esoterisch, wirkt aber oft sehr gut, weil unser Gehirn auf symbolisches Handeln anspricht.

Und ganz wichtig ist es, darüber zu reden. Nicht immer im Detail, aber mit Menschen, die es verstehen oder verstehen wollen. Sich mit anderen austauschen, die das auch kennen. Zu merken, ich bin nicht verrückt. Ich bin nicht zu empfindlich. Ich bin einfach anders verdrahtet, und das ist okay.

Denn am Ende ist es nicht falsch, viel zu fühlen. Es wird nur dann zur Last, wenn man glaubt, dass man alles fühlen muss und nie nein sagen darf. Wenn du dich da wiedererkennst, dann nimm dich ernst. Du bist nicht „zu sensibel“. Du hast ein hochfeines, tiefes, starkes Nervensystem. Und du darfst lernen, damit gut umzugehen, ohne dich selbst dabei zu verlieren.