Autismus Diagnostik: Erwachsene Menschen und in höherem Alter

Autismus Diagnostik: Erwachsene Menschen und im höheren Alter

Ist eine Autismus Diagnostik auch bei Erwachsenen und in höherem Alter sinnvoll?

Meistens hört man ja heutzutage von Autismus bei Kindern und Jugendlichen. Viele Merkmale, die beschrieben werden, beziehen sich auf Kinder. Schulungen, Fortbildungsangebote, Diagnose- und Fördermöglichkeiten sind oft mit kindlichem Autismus verknüpft. Dabei gibt es viele erwachsene Menschen, die von Autismus betroffen sind und bisher keine Diagnostik durchlaufen haben. Ich freue mich immer besonders, wenn ich Anfragen von älteren Menschen erhalte. Damit meine ich einerseits „ganz normale“ Erwachsene, aber im Besonderen auch ältere erwachsene Menschen, teilweise noch im Berufsleben stehend, teilweise schon berentet. Hier finde ich in der Diagnostik die Anamnese besonders spannend!

Ältere autistische Menschen weisen oft überaus interessante Lebensläufe auf und spannende Mechanismen, wie sie mit ihren autistischen Verhaltensweisen in der Arbeit oder Beziehung umgegangen sind. Oft höre ich dann, dass sie in ihrer Herkunftsfamilie als Sonderlinge behandelt wurden. „Der Peter, der ist genauso komisch wie sein Onkel Hans, bei dem war das genauso.“ Vieles wurde früher einfach hingenommen und als sonderbar abgetan, ohne es weiter zu hinterfragen oder darauf einzugehen.

Durch die Präsenz des Themas Autismus in den Medien erkennen sich beispielsweise Lehrerinnen plötzlich selbst wieder, wenn das Thema Autismus in ihrer Schule präsent wird, Sozialpädagoginnen verstehen autistische Kinder oft problemlos und wundern sich, wieso dies so ist und andere Menschen die Kinder nicht verstehen. Pflegekräfte haben ausgefeilte Mechanismen entwickelt, wie sie es schaffen können, körperliche Berührungen von Patienten und Patientinnen zu vermeiden. Aber der Berufsweg sei früher eben einfach vorgegeben und ohne viel Wahlmöglichkeiten gewesen.

Oft sind es partnerschaftliche Konflikte, die den Anstoß zur Diagnostik im Alter geben. Partner und Partnerinnen haben einen Beitrag im Fernsehprogramm gesehen und ihren Mann oder ihre Frau in den dargestellten autistischen Verhaltensweisen wiedererkannt. Manche der Verhaltensweisen ihres Mannes oder ihrer Frau führen immer wieder zu Streitigkeiten oder lösen auch nach vielen Jahren Unverständnis aus. Es ist kein Problem, sich stundenlang mit mathematischen Problemen oder der Gartenpflege zu beschäftigen, aber ein Familientreffen wird zur Unmöglichkeit. Eine Baustelle auf dem Weg zur Arbeit löst eine mittlere Katastrophe aus. Urlaube werden abgelehnt oder nur unter Widerwillen ertragen. Umarmungen gibt es nur nach Einforderung und spontane Liebesbekundungen fallen eher zurückhaltend aus.

Mit der Diagnose Autismus kehrt oft Ruhe in die Beziehung ein und im besten Falle entsteht ein tiefes Verständnis für den betroffenen Partner oder die Partnerin, was sich nach vielen möglicherweise auch problematischen Jahren wie eine große Erleichterung anfühlen kann. Als besonders hilfreich werden die neu entstehenden Handlungsmöglichkeiten empfunden. Viele beziehen sich auf eine Autismus gerechte Kommunikation, vorhandene Wahrnehmungsbesonderheiten und die Schwierigkeit in sozialen Interaktionen. Es wird verstehbar, wieso ein Familienfest für den Partner oder die Partnerin zu einer Höchstanstrengung werden kann. Es wird nachvollziehbar, wieso unausgesprochene Erwartungen und indirekte Botschaften (ich habe schon lange keinen Blumenstrauß mehr erhalten; ich hatte gehofft, du hättest heute mal den Tisch gedeckt usw.) nicht zum Erfolg geführt haben. Die Entdeckung des Autismus bringt gänzlich neue Ansichten! Endlich kann verstanden werden, wieso ein „Ich liebe Dich“ selten gesagt, aber der Tank vom Auto immer gefüllt wurde. Weil autistische Menschen ihre Zuneigung oft über Taten, nicht unbedingt über Worte, ausdrücken. Dies kann auf eine Partnerschaft und bestehende Probleme noch einmal ein völlig neues Licht werfen. Und auch für den autistischen Menschen selbst besteht natürlich die Chance, endlich weniger Anstrengungen unternehmen zu müssen, um in die neurotypische Welt zu passen und so akzeptiert zu werden, wie er oder sie ist. Denn wenn ich eines oft ganz deutlich höre, egal ob von älteren Männern oder Frauen, so ist es, dass im Leben, sowohl in der Beziehung, bei den Kindern oder im Beruf Höchstanstrengungen unternommen wurden, um sich anzupassen, nicht aufzufallen und alles richtig zu machen, was unglaublich viel Energie gekostet hat.

Autismus kann auch im fortgeschrittenen Alter sehr gut diagnostiziert werden, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Er „verwächst“ sich nicht, er kann aber durch Anpassung und erworbene Strategien und Kompensationsmöglichkeiten auf den ersten Blick unauffälliger werden, wird bei sensibler Anamnese aber leicht offenbar. Denn bspw. Schwierigkeiten in sozialer Interaktion und bei der Interpretation von Mimik und Gestik bleiben bestehen. Ebenso wie Empfindsamkeiten in der Wahrnehmung oder das ausgeprägte Bedürfnis nach Routinen, Ritualen und Strukturen sowie die Verfolgung intensiver Interessen.

Eine Diagnose im Alter kann sehr hilfreich sein, um den Blick auf die eigene Identität noch einmal zu verändern, mit sich selbst liebevoller und verständnisvoller umzugehen und eine erfüllte Beziehung mit gelingender Kommunikation (weiter) zu leben.