Autismus und Genderdysphorie
Manche Menschen haben früh gespürt, dass sie nicht sind, wie andere sie sehen. Und wenn dieses Gefühl nicht nur den Charakter, sondern auch das eigene Geschlecht betrifft, kann das Leben ziemlich kompliziert werden. Noch ein bisschen komplizierter wird es, wenn man autistisch ist. Denn dann kommt oft beides zusammen, das Gefühl, anders zu sein, und die Schwierigkeit, das überhaupt in Worte zu fassen.
Viele Menschen mit Autismus berichten, dass sie sich schon als Kind nicht so ganz zugehörig gefühlt haben. In Gruppen, in Rollenbildern und in sozialen Erwartungen. Und wer dann noch spürt, dass das zugewiesene Geschlecht nicht passt, findet oft erst sehr spät eine Sprache für das, was da innerlich „nicht rund“ läuft.
In den letzten Jahren ist viel geforscht worden zu dem Zusammenhang zwischen Autismus und geschlechtlicher Identität. Studien zeigen, dass autistische Menschen deutlich häufiger von Genderdysphorie betroffen sind als neurotypische Menschen. Während sich in der Allgemeinbevölkerung etwa ein bis zwei Prozent nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren, liegt dieser Anteil bei autistischen Menschen laut aktuellen Metaanalysen bei etwa sechs bis acht Prozent. Manche Studien sprechen sogar von bis zu zehn Prozent. Das ist nicht wenig, und es wirft viele Fragen auf.
Nicht, weil es verwirrend ist. Sondern weil es zeigt, dass es Gruppen gibt, für die das Konzept von Geschlecht nicht so eindeutig ist, wie es oft dargestellt wird. Menschen mit Autismus sind häufig nicht so sehr auf gesellschaftliche Erwartungen fixiert. Sie orientieren sich weniger daran, was als „normal“ gilt. Sie hinterfragen Strukturen, weil sie sie nicht intuitiv übernehmen. Und das betrifft auch die Geschlechterrollen. Manche spüren einfach, dass sie sich in keiner dieser Kategorien wirklich wiederfinden. Oder dass sich ihr Empfinden im Lauf der Zeit verändert.
Dazu kommt, dass viele autistische Menschen sehr klar denken, aber gleichzeitig Schwierigkeiten haben, ihre Innenwelt nach außen zu transportieren. Das betrifft auch die Frage nach Geschlecht. Es fällt ihnen schwer, Sprache für etwas zu finden, das sich oft vage, widersprüchlich oder ungeordnet anfühlt. Manche haben keine Worte für ihr Unbehagen. Oder sie erleben dieses Unbehagen weniger emotional, dafür aber körperlich spürbar. Nicht selten wird ihnen dann gesagt, sie seien verwirrt oder hätten ein Problem mit sich selbst. Dabei haben sie oft einfach nur keine passenden Begriffe gelernt, oder nie den Raum bekommen, sie auszuprobieren.
Gerade deshalb ist es wichtig, gut zuzuhören und zwar ohne vorschnelle Deutungen. Genderdysphorie bei autistischen Menschen zeigt sich manchmal anders. Sie ist nicht immer dramatisch. Sie ist oft leise, zurückhaltend und zäh. Sie lebt in kleinen Ausweichbewegungen. In der Abneigung gegen bestimmte Kleidungsstücke. In der Weigerung, mit dem eigenen Namen angesprochen zu werden. In einem Unwohlsein, das schwer erklärbar bleibt, aber nicht verschwindet.
Für viele ist der Weg zu einer passenden Identität lang. Nicht, weil sie sich nicht sicher sind. Sondern weil sie erst herausfinden müssen, was ihnen überhaupt zur Verfügung steht. Und weil sie Strategien brauchen, um diese Identität im Alltag zu leben. Ohne sich zu überfordern. Ohne sich ständig erklären zu müssen.
Menschen mit Autismus haben oft ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Klarheit. Gleichzeitig ist Geschlecht ein Thema, das selten eindeutig ist. Das kann innere Konflikte auslösen. Soll ich mich festlegen? Darf ich mich neu sortieren? Muss ich mich überhaupt benennen?
Viele erleben sich als nicht-binär, genderqueer oder einfach geschlechtlich nicht zuordenbar. Manche wechseln zwischen den Bezeichnungen, bis etwas passt. Und viele wünschen sich einfach nur, so sein zu dürfen, wie sie sind, ohne Einordnung, ohne Diskussion. Das Problem ist nur, dass die Welt oft anders funktioniert.
Ärztliche Stellen, Behörden, Formulare… All das verlangt Klarheit, und genau hier stoßen viele an ihre Grenzen. Weil sie nicht nur ihr Geschlecht erklären sollen, sondern oft auch ihre Autismusdiagnose. Und weil beides zusammen für viele Stellen noch schwer(er) verständlich ist. Dann heißt es plötzlich, die Betroffenen seien nicht entscheidungsfähig. Oder ihre Wahrnehmung sei verzerrt. Das ist nicht nur verletzend, es ist auch schlicht falsch.
Autistische Menschen mit Genderdysphorie brauchen vor allem eines – eine respektvolle Begleitung. Menschen, die nicht gleich wissen wollen, „was genau du jetzt bist“. Sondern die Zeit geben, um zu spüren, zu formulieren und zu sein. Die verstehen, dass ein Gespräch über Geschlecht manchmal kein Gespräch ist, sondern ein Tastversuch. Ein inneres Ordnen, das langsam wachsen darf.
Es gibt viele Fragen, die dabei auftauchen. Darf ich das? Muss ich etwas tun? Was verändert sich, wenn ich mich oute? Muss ich medizinische Schritte gehen, um „gültig“ zu sein? Die Antworten darauf sind individuell. Aber sie sollten nicht daran scheitern, dass jemand keine Unterstützung findet, oder sich nicht zutraut, das Thema überhaupt zu benennen.
Wenn Autismus und Genderdysphorie zusammentreffen, entsteht oft ein doppelter Druck. Einerseits der Wunsch nach Ordnung, Struktur und Eindeutigkeit. Andererseits das Wissen, dass Identität nicht immer geradlinig ist. Manche Menschen brauchen dann Zeit. Und die Sicherheit, dass sie mit ihren Fragen nicht falsch sind.
Was hilft, ist eine Umgebung, in der nicht alles erklärt werden muss. In der man schweigen, zögern und neu anfangen darf. In der niemand fragt, wie man „wirklich“ ist. Sondern in der einfach Raum ist für das, was gerade da ist.
Ich wünsche mir, dass mehr Menschen wissen, wie häufig Genderdysphorie bei autistischen Personen vorkommt. Nicht, um Schubladen zu füllen, sondern um zu erkennen, dass Vielfalt kein Fehler im System ist, sondern ein Teil davon. Und dass auch dann, wenn vieles anders ist, immer etwas Wahres darin steckt.
Wenn dir beim Lesen manches vertraut vorkam, dann ist es vielleicht einfach ein guter Moment, genauer hinzuschauen. Ganz in Ruhe und in deinem Tempo. Du musst nichts sofort wissen oder entscheiden. Es geht nicht darum, etwas zu beweisen. Nur darum, herauszufinden, was für dich stimmig ist. Und das kann ein Anfang sein.