Autismus und Wut: Was passiert, wenn zu viel zu viel wird

Autismus und Wut: Was passiert, wenn zu viel zu viel wird

Zu viel, zu nah, zu laut: Wie Wut bei Autismus entsteht

Wenn wir über Autismus sprechen, dann begegnen uns bestimmte Bilder, die sich festgesetzt haben. Oft ist da die Rede von Reizempfindlichkeit, sozialer Unsicherheit, dem Bedürfnis nach Struktur oder dem Gefühl, irgendwie anders zu sein, ohne genau benennen zu können, woran es liegt. Man spricht über stille Kinder mit großen Augen, über Erwachsene, die in Meetings lieber schweigen, über Menschen, die sich in sozialen Räumen am Rand halten und Dinge beobachten, die andere längst übersehen haben. Aber eines wird so gut wie nie erwähnt. Und das ist Wut.

Wut gehört nicht zu den Bildern, die wir mit Autismus automatisch verbinden. Wut passt nicht in das freundliche, stille, sensible Schema, das uns oft vermittelt wird. Sie ist zu laut, zu wild, zu unbequem. Und doch ist sie da. Sie existiert in vielen autistischen Lebensläufen, oft gut versteckt, manchmal mit aller Kraft unterdrückt, manchmal auch über Jahre hinweg in den Körper hineingepresst, bis sie sich in psychosomatischen Symptomen, völliger Erschöpfung oder einem inneren Rückzug ins Nichts entlädt. Und manchmal bricht sie eben doch durch. Plötzlich, roh, ungefiltert. Als sei der letzte Rest Kontrolle einfach weggeflogen.

Wenn man mit autistischen Erwachsenen spricht, dann erzählen viele davon, dass sie Wut erlebt haben, schon früh, oft in der Kindheit, manchmal auch ganz ohne Worte. Manche sprechen davon, wie sie geschrien, gegen Wände geschlagen oder Dinge zerbrochen haben, ohne zu wissen, warum. Andere beschreiben ein Gefühl wie unter Strom zu stehen, innerlich zu kochen, ohne dass es je sichtbar wird, weil sie gelernt haben, die Außenwelt nicht mit ihren Emotionen zu belasten. Viele tragen diese Wut wie einen peinlichen Fleck mit sich herum, wie ein Geheimnis, das sie niemandem zeigen dürfen, weil es nicht zu dem Bild passt, das die Gesellschaft von ihnen hat. Denn autistisch und aggressiv, das darf irgendwie nicht zusammen gedacht werden.

Dabei ist Wut kein Fehler. Sie ist auch keine Bedrohung. Wut ist ein Signal. Sie zeigt an, dass etwas nicht stimmt. Dass Grenzen überschritten werden, dass Bedürfnisse nicht gehört werden, dass Reize zu viel, Worte zu hart oder Situationen zu überwältigend sind. Wut ist in gewisser Weise die letzte Verteidigungslinie des Nervensystems. Und bei autistischen Menschen ist diese Linie manchmal näher an der Oberfläche als bei anderen. Nicht, weil sie per se reizbarer wären, sondern weil ihre Reizfilter schwächer, ihre Empathie nach innen stärker, ihre Selbstregulation erschöpfter ist.

Was viele dabei übersehen, ist, dass Wut bei Autismus nicht dasselbe ist wie Gewalt. Wut kann still sein. Sie kann sich im Inneren festfressen, kann sich gegen den eigenen Körper richten, gegen die eigene Existenz. Viele autistische Menschen berichten, dass sie in Momenten großer Überforderung nicht andere beschimpfen oder angreifen, sondern sich selbst zurückziehen, sich die Haut aufkratzen, sich beißen oder schlagen, um den inneren Druck irgendwie loszuwerden. Diese Formen der Selbstverletzung sind keine bewusste Entscheidung, sie sind Ausdruck eines emotionalen Notfallsystems, das in einer Welt aktiviert wird, die oft zu laut, zu schnell, zu unlogisch ist.

Natürlich gibt es auch Momente, in denen die Wut nicht mehr leise bleibt. Dann wird geschrien, gezittert, der Raum wird eng, der Körper übernimmt, das Denken setzt aus. Was dann passiert, ist kein aggressives Fehlverhalten. Es ist ein neurologisches Überlaufen, ein Not-Aus, ein Autonomie-Alarm. Oft schämen sich Betroffene danach zutiefst. Nicht, weil sie nicht nachvollziehen könnten, was da passiert ist, sondern weil sie gelernt haben, dass man so nicht sein darf. Dass man nicht schreien, nicht toben, nicht verzweifeln darf. Und schon gar nicht als erwachsener Mensch. Und erst recht nicht, wenn man sowieso schon dauernd aneckt.

In vielen Familien mit autistischen Kindern gibt es deshalb auch diese stillen Abmachungen. Dass über Wutausbrüche nicht gesprochen wird. Dass man sich irgendwie durchwurschtelt. Dass man hofft, es verwächst sich schon. Aber das tut es nicht. Es wird höchstens besser versteckt. Erwachsene Autistinnen und Autisten haben oft ein Leben lang gelernt, ihre Impulse zu deckeln, ihre Überforderung zu ignorieren, ihre Verzweiflung in kontrollierte Bahnen zu lenken. Aber das bedeutet nicht, dass die Wut weg ist. Sie steckt oft in jeder Faser des Körpers, in jeder verspannten Schulter, in jedem erschöpften Seufzer, in jedem resignierten „Ist schon okay“.

Es wäre sinnvoll, Wut nicht länger als peinliche Entgleisung, sondern als berechtigtes Signal zu verstehen. Als Teil einer emotionalen Reaktion, die zeigt, dass etwas nicht stimmt. Es braucht Räume, in denen auch autistische Menschen lernen können, ihre Wut wahrzunehmen, einzuordnen und in Worte zu fassen, anstatt sie reflexhaft zu unterdrücken. Auch der Gedanke, dass eine ruhige Stimme nicht zwingend für innere Ausgeglichenheit spricht, sollte selbstverständlicher werden. Hinter äußerer Freundlichkeit kann Überforderung stehen. Und auch neurodivergente Menschen haben ein Recht darauf, ihre Gefühle sichtbar zu machen.

Denn wer immer nur still bleibt, zerbricht irgendwann. Und wer nie lernt, seine Wut zu verstehen, wird sie nie einordnen können. Autismus ist keine Gefühllosigkeit. Ganz im Gegenteil. Viele autistische Menschen fühlen zu viel, nicht zu wenig. Sie spüren Unstimmigkeiten in der Atmosphäre, nehmen unausgesprochene Erwartungen wahr, registrieren kleinste Abweichungen, bevor andere überhaupt merken, dass etwas nicht stimmt. Und wenn sie dann nicht gehört, nicht ernst genommen, nicht gesehen werden, bleibt oft nur noch die Wut als Ausdruck dessen, was sich nicht mehr in Worte fassen lässt.

Wut ist nicht gleichzusetzen mit Gefahr. Laut werden ist nicht automatisch ein Kontrollverlust. Es kann auch ein Zeichen dafür sein, dass jemand seine Grenze längst überschritten sieht und noch versucht, irgendwie sichtbar zu bleiben.