Autismus: Autistische Züge bzw. ‚broad autism phenotype‘

Autismus: Autistische Züge

Liegt hier Autismus oder liegen autistische Züge (broad autism phenotype) vor?

Relativ viele Menschen stellen sich die Frage, ob bei Ihnen Autismus vorliegen könnte. Sie bemerken bei sich z.B. Kommunikationsschwierigkeiten mit anderen Menschen, soziale Hemmnisse oder weisen eine mangelnde Flexibilität im Tagesablauf auf. Aber ist das jetzt Autismus oder sind es doch ‚nur‘ autistische Züge? Diese Frage wird in der Autismus Diagnostik natürlich eingehend untersucht.

Am Ende läuft es oft darauf hinaus, ob notwendige Kriterien, die im ICD-10 (ICD-11) und DSM-V festgehalten sind, erfüllt sind oder nicht. Hierbei müssen durch Testverfahren wie ADOS-2 oder ADI-R messbare Schwierigkeiten in der wechselseitigen sozialen Interaktion, Kommunikation und durch starre sich wiederholende Verhaltensmuster festgestellt werden. Sind bspw. nur zwei Bereiche betroffen, so ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass eine Autismus-Spektrum-Störung vorliegt. Vielleicht stehen dann eher soziale Ängste, depressive Symptome oder zwanghafte Verhaltensmuster im Vordergrund. (Diese können natürlich auch als Begleiterkrankungen bei Autismus vorliegen.)

Wichtige Bereiche, die bei möglicherweise Betroffenen zusätzlich erfragt werden sollten, sind zudem ganz ausdrückliche Spezialinteressen und vorhandene Wahrnehmungsbesonderheiten, wie bspw. eine starke akustische oder visuelle Sensitivität und die Neigung zu Reizüberflutungen. Es heißt immer, „Kennst du einen Menschen mit Autismus, kennst du einen Menschen mit Autismus“. Dem stimme ich grundlegend zu und dennoch gibt es Symptombündel, die häufig zusammen bei Menschen mit Autismus auftreten und bei neurotypischen Menschen nicht als Bündel, sondern eher als einzelne Verhaltensweisen aus einem Bündel.

Auch neurotypische Menschen weisen Verhaltensweisen auf, die autistisch anmuten können. So habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele neurotypische Menschen z.B. Smalltalk auch nicht mögen. Dieses ‚nicht mögen‘ hat jedoch bei ihnen eine andere Qualität als bei Menschen mit Autismus. Neurotypische Menschen können eher scheu und ängstlich in Smalltalk Situationen sein, da sie nicht im Mittelpunkt stehen wollen, während Menschen mit Autismus Smalltalk oft auch nervig, langweilig und absolut sinnlos empfinden.

Auch vielen neurotypischen Menschen fällt das Telefonieren schwer, jedoch weniger aufgrund von Problemen wie Pausen beim Sprechen nicht zu erkennen oder anderen ins Wort zu fallen. Sondern vielmehr, da sie nicht wissen, was sie erwartet und weil sie im Gespräch spontan reagieren müssen (was Menschen mit Autismus oft auch sehr schwerfällt). Dies hat aber wenig mit mangelnder Spontaneität an sich zu tun, sondern eher mit sozialen Ängsten und der Erwartung, sich vor dem Gesprächspartner eventuell zu blamieren. Drängt ein Gesprächspartner am Telefon zu einer Entscheidung, empfehle ich autistischen UND neurotypischen Menschen, zu sagen, „Darüber muss ich erstmal nachdenken.“

Auch viele neurotypische Menschen ziehen sich gerne zurück und sind gerne alleine. Auch wenn sie nicht depressiv sind. Sie sind sich oft selbst genug und können Freundschaften als anstrengend empfinden. Auch wollen sie vielleicht die Verantwortung nicht tragen, die mit einer Freundschaft einhergeht. (Nachts, 3:00 Uhr, angerufen zu werden und z.B. eine nach einer Trennung weinenden Freundin zu betreuen, ist ja auch nicht sehr attraktiv.) Wenn sie jedoch den Wunsch hätten, eine Freundschaft aufzubauen, so hätten sie viel geringere Probleme damit als autistische Menschen. Sie wüssten in der Regel, was sie tun müssen und wie die ganze Sache ‚Freundschaftsaufbau- und pflege‘ anzugehen wäre. Auch hätten sie weniger Probleme, sich regelmäßig und in der Realität mit anderen Menschen zu treffen. Während vielen autistischen Menschen häufig eher das Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen als regelmäßige Treffen mit ihnen wichtig wäre.

Letztendlich wird in der Diagnostik durch Testverfahren geschaut, ob ein gezeigtes Verhalten oder Erleben über einem bestimmten Cut-off liegt oder darunter. Hier zeigt sich aber auch noch einmal, wie wichtig eine ausführliche Anamnese ist. Grade Frauen sind bspw. von früh auf hoch anpassungsfähig und oft sehr empathisch in ihrem Umgang mit anderen. Sie erreichen manchmal nicht alle Grenzwerte in Testverfahren, die auf Autismus hindeuten, sind aber trotzdem von einer Autismus-Spektrum-Störung betroffen. Das heißt, Tests alleine liegen auf keinen Fall zu hundert Prozent richtig. Der Mensch muss unbedingt ganzheitlich betrachtet und nicht nur anhand von Messwerten beurteilt werden. Es wäre meiner Meinung nach fahrlässig, Betroffenen zu sagen, sie treffen die Grenzwerte in bestimmten Testverfahren nicht und können daher nicht autistisch sein, obwohl in der Anamnese die Kriterien einer Autismus-Spektrum-Störung nachweislich erfüllt sind. Diese Vorgehensweise wäre mechanisch und am Menschen vorbei. Und immer wieder ist es mir wichtig zu sagen, dass die aktuelle deutschsprachige Diagnostik nur durch die Betrachtung von ausschließlich Jungen und Männern entwickelt worden ist und weibliche Verhaltensweisen nicht inkludiert!

Zusammenfassend: Nicht alle autistischen Verhaltensweisen sind bei allen neurotypischen Menschen befremdlich, da diese sich in einigen sogar selbst wiedererkennen.